Die Todesbotschaft
begegnete seinem Blick und versuchte, ihren Mann in stummer Zwiesprache zu beruhigen. Was ihr auch gelang.
Adrian machte eine kleine Bewegung mit dem Oberkörper Richtung Tür. Er war bereits wieder auf dem Sprung. »Ich muss wieder zu Vater. Er …«
Ich legte die Hand auf seinen Arm und schob ihn gleichzeitig zum Tisch. »Du verschnaufst hier mal ein paar Minuten. Ich gehe zu deinem Vater. Wo ist er?«
»In seinem Arbeitszimmer.« Es hing ein Aber in der Luft, das sich jedoch schnell auflöste, als Adrian sich mit einem Seufzer setzte. Im Hinausgehen sah ich noch, wie er die Ellbogen auf dem Tisch abstützte und den Kopf in den Händen verbarg.
In der Halle hatte jemand Fenster und Läden weit geöffnet und mit der Nachmittagssonne auch die Wärme hereingelassen. Ich hielt kurz inne und ließ den Blick über die beiden Sitzbänke, eine bemalte Bauerntruhe und den Bauernschrank, der als Garderobe diente, wandern. Auch hier hatte Cornelia eine anheimelnde Atmosphäre geschaffen.
Schließlich ging ich weiter zu Carls Arbeitszimmer und klopfte. Als von drinnen keine Antwort kam, öffnete ich die Tür. Adrians Vater saß an seinem wuchtigen Schreibtisch und starrte in ein fast bis zum Rand gefülltes Glas, das er mit beiden Händen festhielt. Daneben stand eine Whiskeyflasche auf der ledernen Schreibunterlage. Selbst als ich mich leise räusperte, bemerkte er mich nicht. Voller Mitgefühl betrachtete ich den Siebzigjährigen, für den es nie den Hauch eines Zweifels gegeben hatte, dass er vor seiner Frau sterben würde. Er hatte einmal zu mir gesagt, diese Vorstellung empfinde er als eine große Beruhigung. Seit unserer letzten Begegnung hatten sich seine früh ergrauten Haare gelichtet. Seine Krawatte war gelöst, der oberste Hemdknopf geöffnet, als habe er um Luft ringen müssen. Seine Gesichtszüge schienen erstarrt in dem Schock, den er erlitten hatte.
Ich räusperte mich noch einmal, dieses Mal lauter. »Carl?«
Er rührte sich nicht. Gerade wollte ich wieder gehen, da hob er den Kopf und sah mich an, als sei ich ein Geist. Er gab einen Laut von sich, der tief aus seinem Inneren kam und einem unbeschreiblichen Schmerz Ausdruck verlieh. Ich setzte mich ihm gegenüber an den Schreibtisch. In der Hoffnung, seinen Griff um das Glas etwas lockern zu können, strich ich sanft über seine Hände. Ich wollte ihm sagen, wie leid es mir tat, wie traurig ich war. Aber ich spürte, dass nichts von alldem ihn erreichen würde. Der Unfall hatte ihm mehr abgefordert, als er verkraften konnte. So blieb ich einfach bei ihm sitzen und hielt seine Hände, die sich nach einer Weile von dem Glas lösten.
»Sie hat mir den Whiskey immer verboten. Sei nicht gut für mein Herz. Deshalb habe ich ihn im Tresor versteckt. Abends, wenn sie schon nach oben gegangen war …« Er starrte an mir vorbei auf etwas, das sich meinen Blicken entzog. »Manchmal hat sie dort in dem Sessel gesessen und gestrickt …«
Vermutlich gab es im Umfeld der Familie Graszhoff niemanden, der von Cornelia nicht schon einmal mit einem Paar selbstgestrickter Wollsocken beschenkt worden war. Ich besaß gleich mehrere, die ich im Winter im Bett anzog, wenn mich meine eiskalten Füße nicht einschlafen ließen.
Er löste seine Hände aus meinen, nahm das Glas, verschüttete dabei einen Teil und leerte den Rest in einem Zug. »Ich habe immer gehofft, ich würde vor ihr sterben. Deshalb habe ich gut für sie vorgesorgt. Ihr sollte es an nichts fehlen.« Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund. »Es ist eine verkehrte Welt, wenn die Frauen vor den Männern sterben.« Beim letzten Satz klang seine Stimme anklagend, während sein Blick durch den Raum irrte, bis er versuchte, sich an mir festzuhalten.
Ich erkannte darin, was er nicht aussprechen konnte:
Es ist eine verkehrte Welt, wenn die Kinder vor ihren Eltern sterben.
Carl konnte über Cornelia reden, den Tod seines Sohnes auszusprechen, überstieg seine Kraft.
»Was soll das Ganze jetzt noch?«, fragte er. »Wofür?«
Für Adrian und Amelie und sein Enkelkind, formulierte ich im Stillen. Ich hoffte, diese Antwort würde sich ihm selbst irgendwann erschließen.
Zu dritt hatten wir Hunderte von Traueranzeigen in die beschrifteten Umschläge geschoben. Adrian würde sie gleich am nächsten Morgen zur Post bringen. Nachdem Amelie sich hingelegt und Carl in seinem Whiskey-Rausch endlich eine vorübergehende Betäubung gefunden hatte, saß ich mit Adrian noch eine Weile auf der Terrasse. Es war
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