Die Todesbotschaft
Fingern über ihre Knie, bis ihre Hände wieder zur Ruhe kamen und sie aufsah. »Auch oben unterm Dach in Huberts Wohnung sieht es aus wie immer: Als habe eine Bombe eingeschlagen. Überall auf dem Boden sind Bücher mit gelben Merkzetteln, vollgeschriebene Kladden und Sitzkissen verteilt. Hatte ich dir erzählt, dass er angefangen hat, Philosophie zu studieren?« Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprach weiter, als habe sie Sorge, ihre Gedanken gingen verloren, wenn sie sie nicht aussprach. »Nach Geschichte und Politik wäre das sein drittes Studium gewesen. Er hat sich mit Wissen vollgestopft wie andere mit Drogen.« Sie sah mich mit großen Augen an. »Man könnte meinen, er habe tief drinnen gespürt, dass ihm nicht so viel Zeit bleiben würde wie anderen.« Sie zog eines der Stoffbänder in die Länge, mit denen ihr Kleid gewickelt war. »Aber das ist natürlich Blödsinn. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass Menschen versuchen, einen tieferen Sinn in solch schlimmen Ereignissen zu entdecken. Als habe es für Hubert einen Lebensplan gegeben, der nun vollendet ist. Dabei ist es so, dass dieser Unfall Hubert einen Strich durch all seine Pläne gemacht hat.« Sie sah sich suchend um, stand auf und holte von der Fensterbank Zigaretten und Aschenbecher. Sie hielt mir beides hin. »Könntest du bitte eine Zigarette rauchen? Ich habe vor drei Monaten damit aufgehört, aber ich muss jetzt wenigstens mal daran schnuppern.«
Ich fingerte eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und blies den Rauch über Amelie hinweg. Diese Bilder, die Amelie beschrieben hatte, kamen mir vor wie Standbilder eines Films, der angehalten worden war. Nur ließ sich das Leben nicht wieder mit der Playtaste in Bewegung setzen. Nach einem letzten tiefen Zug drückte ich die Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf.
Amelie nahm es als Startzeichen, um hinüber zu dem Tisch zu gehen, auf dem sich schwarz umrandete Briefumschläge und mehrere Adressbücher stapelten. »Magst du mir dabei helfen?«, fragte sie.
Ich nickte und ließ mich von ihr instruieren, die Adressen mit jedem der Adressbücher abzugleichen und jeweils abzuhaken, damit wir Doppelungen vermieden. Während ich einen Umschlag nach dem nächsten beschriftete, wurden die Erinnerungen an die Zeit unserer Kindheit übermächtig. Ich legte den Stift beiseite und sah aus dem Fenster in den Garten mit seinen prachtvollen alten Linden und Eichen, um die herum Cornelia hier und da Holzbänke hatte bauen lassen. In dem starken, ausladenden Geäst zweier Eichen hatte jeweils ein Baumhaus seinen Platz gefunden. Es waren schiefe, abenteuerlich anmutende Bauten, deren Aussehen über ihre Stabilität hinwegtäuschte, die Phantasie eines Kindes jedoch auf eine wunderbare Reise schickte. Eines dieser Häuser konnte ich vom Tisch aus sehen. Bei seinem Anblick wurde mir warm ums Herz.
»Ich habe Hubert und Adrian immer so sehr um die Baumhäuser beneidet«, sagte ich. »Für mich allein hätte Mutter sogar eines bauen lassen, aber dann hättest auch du hinaufklettern können. Und um dich war sie immer besorgt.« Ich runzelte die Brauen und nahm den Stift wieder zur Hand. »Hätte sie herausgefunden, dass du hier ständig die Bäume hinaufgeklettert bist, hätte sie unsere Ausflüge in den Graszhoffschen Garten mit Sicherheit unterbunden.«
»Dich hat sie eben für die Sportlichere von uns beiden gehalten.«
Sekundenlang schloss ich die Augen, sparte mir jedoch einen Kommentar. Amelie hatte schon immer einfache Erklärungen als Grund für unsere unterschiedliche Behandlung vorgezogen. Dagegen war im Prinzip auch nichts einzuwenden, wären diese Erklärungen plausibel gewesen. Als sich zwei Hände auf meine Schultern legten, fuhr ich erschreckt herum und sah mich meinem Schwager gegenüber, der seine Hände in einer entschuldigenden Geste ausbreitete.
»Ich dachte, du hättest mich gehört«, meinte Adrian, der genau wie seine Frau Schwarz trug. In seinem Fall waren es Polohemd und Jeans.
»Ich war so tief in Gedanken«, sagte ich, während ich aufstand, um ihn in den Arm zu nehmen.
Er legte den Kopf auf meine Schulter. Das Atmen schien ihm schwerzufallen. Schließlich richtete er sich wieder auf, trat einen Schritt zurück und hielt meine Hände. »Danke, dass du gleich gekommen bist, Finja.« Adrian sah blass und übernächtigt aus. Obwohl er selbst am Rand seiner Kräfte zu sein schien, stand ihm die Sorge um Amelie ins Gesicht geschrieben.
Meine Schwester
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