Die Todesbotschaft
auf seine gefalteten Hände und runzelte die Stirn. Er wirkte ein wenig ratlos, als benötige er ihre Hilfe bei der Lösung eines Problems. »Gesa«, setzte er an, »eine Mitarbeiterin hat mir erzählt, dass Sie gestern im Schwesternzimmer entdeckt wurden, allein. Können Sie mir sagen, was Sie dort wollten?«
»Telefonieren. Ich wollte …« Tränen tropften ihr auf die Hände.
»Wirklich nur telefonieren, Gesa?«
Seine Frage irritierte sie. Sie grub ihre abgebissenen Nägel in die Handinnenflächen und wartete, worauf er hinauswollte. Aber auch Doktor Radolf schien zu warten. »Was hätte ich denn sonst dort …?« Sie neigte den Kopf und biss sich auf die Lippen.
»Manchmal suchen Patienten dort nach Hilfsmitteln, um sich das Leben zu nehmen. In solchen Momenten können sie an nichts anderes denken, können sich nicht vorstellen, dass ihr Leben auch wieder ein anderes sein wird.« Er machte eine kleine Pause. »Gesa, können Sie sich an solche Momente erinnern? Kennen Sie dieses Gefühl, wenn sich alles verengt und es nur noch einen einzigen Ausweg zu geben scheint? Wenn man glaubt, dieser Ausweg fühle sich besser an als das Leben?«
Sie wollte alles richtig machen, deshalb antwortete sie nicht gleich, sondern hörte in sich hinein. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich möchte leben … mit meinem Kind. Ich möchte …« Das Ende des Satzes war ihr entwischt, bevor sie es zu fassen bekam. Es fiel ihr zunehmend schwerer, sich zu konzentrieren. Sie nahm all ihre Kraft zusammen. »Ich möchte so gerne nach Hause.«
[home]
3
A drian versuchte, mich zum Bleiben zu bewegen. Ich könne genauso gut bei ihnen übernachten, anstatt jetzt noch nach Rottach-Egern aufzubrechen. Es war kurz nach zwei, und ihm fielen fast die Augen zu. Die drei Gläser Rotwein, die er getrunken hatte, forderten ihren Tribut. Ich nahm ihn in den Arm, gab ihm einen Kuss auf die Wange und versprach, am nächsten Tag wiederzukommen.
Zehn Minuten später parkte ich den Leihwagen an der Uferstraße und gab am Tor den Code für die Alarmanlage ein. Unter den wachsamen Linsen der Kameras lief ich über den Kies die Auffahrt entlang auf mein Elternhaus zu, das sich im Lichtschein der Bewegungsmelder aus der Dunkelheit erhob. Beim Bau des Hauses, einer modernen bayerischen Landhausvilla, waren ausschließlich alte Holzbalken verwendet worden. Um den gesamten ersten Stock führte ein Holzbalkon herum. Die typischen Geranienkästen suchte man dort jedoch vergebens. So wie Cornelia der Graszhoffschen Villa ihren Stempel aufgedrückt hatte, trug unsere die Handschrift meiner Mutter. Leicht unterkühlt und streng. So wie der Garten mit seinen zurechtgestutzten Buchsbäumen, Rhododendren und Hortensien. Hätten sich Stockrosensamen hierherverirrt, wären sie eliminiert worden, sobald ein grüner Schössling seine Spitzen durch die Erde ans Licht geschoben hätte.
Ich hielt mein Gesicht in die kühle Brise, die vom See herüberzog, und ging auf die Haustür zu. Auch hier tippte ich den Code für die Alarmanlage ein. Jedes Mal, wenn ich das tat, fragte ich mich aufs Neue, wie man mit so viel Elektronik leben mochte. Mein Vater verteidigte sie als ganz normale Sicherheitsvorkehrung, bei meiner Mutter hatte sie ein Gefühl ständiger Bedrohung heraufbeschworen. Sie konnte nicht mehr schlafen, wenn die Alarmanlage nicht eingeschaltet war. Ich dachte an meine Wohnungstür in Berlin, eine wunderschöne alte Holztür mit bunten Bleiglasfenstern. Vermutlich brauchte es kaum Kraft, um sie aufzudrücken. Trotzdem kam es für mich nicht in Frage, sie gegen eine Sicherheitstür auszutauschen.
Als ich in der Eingangshalle das Licht einschaltete, hätte ich vor Schreck fast laut aufgeschrien. Nur ein paar Meter von mir entfernt stand eine kleine Gruppe lebensgroßer Figuren – jeweils mit einem Handy in der Hand, das sie ans Ohr hielten. Bei meinem letzten Besuch hatten dort noch zwei kopulierende Esel gestanden. Meine Mutter sammelte Kunst – bevorzugt Skulpturen, aber auch Bilder. Nur meine kamen für sie nicht in Frage. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der sich eine Wand in seinem Arbeitszimmer von mir hatte bemalen lassen.
Ich lief durch die Halle, die wie ein Museum für moderne Kunst anmutete, in die Küche, in der elfenbeinfarbener Hochglanzlack und Granitstein vorherrschten. Aus dem Kühlschrank holte ich mir eine Flasche Wasser, bevor ich das Licht löschte, meine Sandalen auszog und die Holztreppe hinauf ins Dachgeschoss lief. Ich wusste
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