Die Todesspirale
er rot.
«Dafür hab ich gar keine Zeit!», giftete er. Weitere Fragen blieben ihm erspart, denn es klopfte.
Jyrki Taskinen steckte den Kopf durch den Türspalt. «Hallo, Janne», sagte er. «Maria, hast du einen Moment Zeit?»
«Wir sind gerade fertig. Vielen Dank, Janne. Jetzt meldest du dich bitte noch bei der Verkehrspolizei.»
Als Erstes wollte Taskinen wissen, was Janne auf dem Prä
sidium zu suchen hatte. Er runzelte besorgt die Stirn, als ich es ihm erzählte, beeilte sich dann jedoch, seinen eigenen Bericht loszuwerden.
«Ich habe gleich heute früh meinen alten Bekannten Boris Charlamow in Moskau angerufen, wegen Anton Grigorievs Unfall. Boris hat versprochen, die Vernehmungsprotokolle durchzulesen und mir dann Bescheid zu geben. Gerade hat er zurückgerufen.» Taskinen machte eine Kunstpause, die ich ungeduldig unterbrach:
«Und?»
«Nichts.»
«Nichts? Was soll das heißen?»
«Es gibt keine Vernehmungsprotokolle. Sie sind verschwunden.»
«Was?»
Boris zufolge war es keineswegs ungewöhnlich, dass Protokolle verschwanden. Im Zuge der politischen Umwälzun-gen der letzten Jahre war auch die russische Miliz mehrfach reorganisiert worden, und um die Aufdeckung früherer Dienstvergehen zu verhindern, waren sowohl Beweismaterial als auch Archive vernichtet worden. Wahrscheinlich war Anton Grigorievs Akte vor ein paar Jahren bei einer Explo-sion im Magazin verschwunden.
«Haben die noch nie was von Sicherheitskopien gehört?
Irgendwer muss sich doch an die Sache erinnern, der ermittelnde Beamte zum Beispiel!»
Taskinen seufzte.
«Boris sucht weiter, aber er ist skeptisch. Obwohl es sich um einen Beamten des Sportministeriums und Dritten der Europameisterschaft handelte – oder vielleicht gerade deshalb –, wurde der Fall offenbar nur oberflächlich untersucht, daher gab es kaum Material.»
«Aber das deutet doch darauf hin, dass es um etwas Gro
ßes geht!», ereiferte ich mich. Ich hatte bereits einige um-fangreiche Drogenfälle, teils mit internationalen Verzweigun-gen bearbeitet, doch nun hatte es den Anschein, als stehe Nooras Ermordung mit einem geradezu gewaltigen illegalen Unternehmen in Verbindung. Was hatte das Mädchen gewusst?
«Kann sein. Vielleicht bedeutet es aber auch nur, dass man den Fahrer nicht fassen wollte, weil er ein Parteibonze war, oder dass der Dienst habende Milizionär zu betrunken war, um die Untersuchung zu führen.» Taskinen schien sich über meinen Eifer zu amüsieren.
«Was können wir tun, außer auf den nächsten Anruf von diesem Boris zu warten? Ob ich Elena Grigorieva mal richtig in die Zange nehme?»
«Ich finde, du solltest dich lieber auf Rami Luoto konzentrieren. Er hat an denselben Wettkämpfen teilgenommen wie die Grigorievs und kennt sie seit über zehn Jahren. Unsere Silja hat ihm immer vertraut. Es könnte doch sein, dass Noora ihm erzählt hat, was sie über die Grigorievs wusste.»
Ich nickte. Dann sprachen wir über Anu Wang, die mich im Mutterschaftsurlaub vertreten sollte. Sie war die erste Poli-zeischulabsolventin
vietnamesischer
Abstammung.
Anu
würde ihren Dienst eine Woche vor Beginn meines Urlaubs antreten, damit mir Zeit blieb, sie einzuarbeiten.
«Du hast noch nicht mitgeteilt, ob du den vollen Elternurlaub nehmen wirst», klopfte Taskinen auf den Busch. Ich musste zugeben, dass ich mich noch nicht entschieden hatte, weil ich mir das Leben mit einem Kind einfach noch nicht konkret vorstellen konnte. Die Gespräche mit meinen Schwestern hatten mir schon im Voraus das Gefühl vermittelt, eine schlechte Mutter zu sein. Eeva, die mittlere, hatte unverblümt gefragt, warum ich überhaupt Kinder wollte, wenn ich die Arbeit als meinen wichtigsten Lebensinhalt ansah.
«Weißt du was, das siehst du ganz anders, wenn das Baby erst mal da ist», hatte sie dann gesagt. Dabei hatte sie sich gerade erst beklagt, seit der Geburt des jetzt zweieinhalb-jährigen Saku kein Buch mehr gelesen zu haben und nicht ein einziges Mal mit ihren Freundinnen aus gewesen zu sein.
Taskinen schlug vor, gemeinsam in der Kantine zu essen.
Ich versprach nachzukommen, sobald ich Rami Luoto erreicht hatte. Der Trainer klang, als wäre er gerade erst aufgewacht, und klagte über Zeitmangel. Schließlich vereinbarten wir, dass ich ihn um halb sechs nach dem Juniorentraining vom Eisstadion abholen und mit ihm in seine Wohnung in der Liisankuja fahren würde.
Um halb sechs … Die Müdigkeit, die mich überflutete, erinnerte mich daran, wie unvernünftig es
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