Die Toechter der Kaelte
versunken.
Agnes erschien es, als sei die Welt um sie zusammengebrochen. War es wirklich heute morgen gewesen, daß sie in dem großen Bett in ihrem schönen Zimmer aufgewacht war, dort in der imposanten Villa, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte? Wie war es dann möglich, daß sie jetzt hier im Zug saß, einen Koffer neben den Knien, auf dem Weg in ein elendes Leben mit einem Mann, zu dem sie sich nicht länger bekennen wollte? Sie ertrug es kaum, ihn anzusehen. Einmal, während der Reise, hatte Anders den Versuch unternommen, tröstend seine Hand auf die ihre zu legen. Sie hatte sie mit derart angewiderter Miene abgeschüttelt, daß sie hoffte, er würde es nie wiederholen.
Als sie ein paar Stunden später vor der Baracke hielten, die ihr gemeinsames Zuhause werden sollte, weigerte sich Agnes zunächst, aus der Droschke zu steigen. Sie saß da, unfähig, sich zu rühren, angesichts des Schmutzes, der sie umgab, und der lärmenden, dreckigen, verrotzten Kinder, die um den Wagen wimmelten. Das hier konnte einfach nicht ihr Leben sein! Einen Augenblick war sie in Versuchung, den Kutscher zu bitten, er möge umkehren und sie zurück zum Bahnhof fahren, doch sie begriff, daß ein solches Unterfangen unmöglich war. Wohin sollte sie gehen? Ihr Vater hatte ihr unmißverständlich klargemacht, daß er nichts mehr von ihr wissen wollte, und irgendwo einen Dienst annehmen zu müssen hätte sie selbst dann nicht erwogen, wenn sie kein Kind im Bauch hätte. Jetzt waren ihr alle Wege verschlossen, außer diesem hier, der in das dreckige, schäbige Haus hineinführte.
Den Tränen nahe, entschloß sie sich endlich, aus der Droschke zu steigen. Angeekelt verzog sie das Gesicht, als ihr Fuß in den Lehm sank. Die Sache wurde nicht besser dadurch, daß sie die schönen, roten, an der Spitze offenen Schuhe trug, und sie fühlte, wie die Nässe durch die Socken zwischen die Zehen drang. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Gardinen weggezogen wurden, um neugierigen Gesichtern zu gestatten, sich das Spektakel anzusehen. Sie warf den Kopf in den Nacken. Sollten sie sich doch die Augen ausglotzen. Was kümmerte es sie, was diese Leute dachten und fanden. Hier gab es nur einfaches Volk, sonst nichts, und man hatte wohl nie zuvor eine richtige Dame gesehen. Nun ja, das hier würde nur eine Stippvisite werden. Sie würde schon eine Möglichkeit finden, aus der Sache herauszukommen, bisher hatte sie ja noch nie eine Situation erlebt, aus der sie sich nicht mit Lügen oder Charme hätte herauswinden können.
Entschlossen nahm sie ihren Koffer und hinkte mit ihm auf die Baracke zu.
Beim Morgenkaffee erzählten Patrik und Gösta Martin und Annika, was am Tag zuvor passiert war. Ernst zeigte sich selten vor neun, und Mellberg fand, daß es seiner Chefrolle schadete, wenn er mit dem Personal Kaffee trank, und saß deshalb hinter geschlossener Tür in seinem Zimmer.
»Begreift sie denn nicht, daß sie sich ins eigene Fleisch schneidet«, sagte Annika. »Sie müßte doch interessiert sein, daß ihr euch auf die Suche nach dem Mörder konzentriert, statt euch mit diesem Mist zu beschäftigen.« Es klang wie ein Echo dessen, was sich Patrik und Gösta gestern gesagt hatten.
Patrik schüttelte nur den Kopf. »Ja, ich werde nicht schlau daraus. Ob sie vielleicht nicht weiter denken kann, als ihre Nase reicht, oder ob sie ganz einfach verrückt ist? Aber ich finde, wir kümmern uns jetzt nicht mehr um diese Sache, wir haben ihr ja hoffentlich einen kleinen Schrecken eingejagt, und sie wird es nicht noch mal versuchen. Hat sich inzwischen vielleicht etwas anderes ergeben, mit dem wir weitermachen könnten?«
Keiner sagte etwas. Es herrschte ein erschreckender Mangel an Anhaltspunkten und Beweisen, die ihre Arbeit voranbringen könnten.
»Wann, sagst du, bekommen wir die Resultate vom Kriminallabor?« unterbrach Annika das gedrückte Schweigen. »Montag«, erwiderte Patrik kurz.
»Ist die Familie von jedem Verdacht befreit?« fragte Gösta und sah einen nach dem anderen über seine Kaffeetasse hinweg an.
Patrik erinnerte sich plötzlich an Ericas merkwürdigen Tonfall am gestrigen Abend, als er von den Alibis der Familie sprach. Da war etwas, was auch ihm im Kopf gespukt hatte, nur müßte er darauf kommen, was es war.
»Natürlich nicht«, sagte er. »Die Familie gehört immer zu den Verdächtigen, aber da gibt’s nichts Konkretes, was in diese Richtung weist.«
»Wie sehen deren Alibis aus?« fragte Annika. Sie fühlte sich von den
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