Die Toechter der Kaelte
essen, so fasziniert war er. Bevor er sich bei der Polizeihochschule beworben hatte, war sein Gedanke gewesen, Psychologie zu studieren, und manchmal fragte er sich, ob er sich nicht falsch entschieden hatte. Nichts war so interessant wie die menschliche Psyche und deren Spielarten.
»Das deutlichste Symptom sind wohl die Schwierigkeiten, die diese Kinder mit sozialer Interaktion haben. Sie verhalten sich ständig auf unpassende Weise, verstehen die sozialen Regeln nicht und haben zum Beispiel die Tendenz, Wahrheiten ständig klar auszusprechen, was natürlich den Umgang mit anderen Menschen erschwert. Sie sind auch äußerst egozentrisch. Es fällt ihnen schwer, sich zu den Gefühlen und Erlebnissen anderer zu verhalten, und sie sehen nur ihre eigenen Bedürfnisse. Oft haben sie auch kein größeres Verlangen, mit anderen Menschen zu verkehren. Spielen sie trotzdem mit anderen Kindern, wollen sie häufig alles bestimmen, oder, was typischer bei Mädchen mit diesem Syndrom ist, sie wollen den Willen anderer Kinder total unterdrücken. Ein weiteres deutliches Signal ist, wenn das Kind ein spezielles Interesse entwickelt, von dem es total absorbiert wird. Asperger-Personen haben die Fähigkeit, sich ungemein für Details zu interessieren, und sie lernen oft alles über ihr Spezialgebiet. Für einen Erwachsenen kann es anfangs hochinteressant sein, an dem Wissen des Kindes teilzuhaben, aber sie sind so eingleisig und geradezu besessen von ihrem Fachgebiet, daß andere bald das Interesse verlieren. Kommen die Kinder dann ins Schulalter, werden oft Zwangsideen und Zwangshandlungen sichtbar. Sie müssen Dinge auf ganz bestimmte Weise tun und zwingen auch ihr Umfeld dazu.«
»Und sprachlich?« fragte Martin und erinnerte sich an Morgans sonderbare Ausdrucksweise.
»Ja, die Sprache ist ein weiterer starker Indikator.« Eva kratzte den letzten Rest Salat aus der Plastikdose und fuhr dann fort: »Das ist eine der großen Schwierigkeiten, die den Personen mit dem Asperger-Syndrom in ihrem Alltag begegnen. Wenn wir Menschen kommunizieren, drücken wir normalerweise weitaus mehr aus, als Worte sagen. Wir benutzen Körpersprache, Gesichtsausdruck, wir ändern die Satzmelodie, betonen anders und verwenden auch häufig Bilder und Gleichnisse. All das ist schwer verständlich für einen Asperger-Betroffenen. Ein Ausdruck wie »dann werden wir wohl den Kaffee überspringen« kann sich für ihn oder sie so darstellen, als wollte man mit beiden Beinen über eine Kaffeetasse springen. Auch wenn sie selbst reden, fällt es ihnen schwer, zu erfassen, wie sie im Vergleich zu anderen klingen. Ihre Stimme kann sehr leise, fast flüsternd sein oder sehr laut und schrill. Oft klingen sie eintönig leiernd.«
Martin nickte. Auf Morgans Stimme paßte letztere Beschreibung.
»Die Person, der ich begegnet bin, bewegte sich auch anders. Ist das typisch?«
Eva nickte. »Die Motorik ist ein zusätzliches deutliches Zeichen. Sie kann ungelenk, plump und abgehackt, steif oder äußerst minimalistisch sein. Oft kommen auch Stereotypien vor.«
Sie sah an Martins Miene, daß sie letzteres verdeutlichen mußte. »Stereotype Bewegungen, die wiederholt werden, zum Beispiel kleine Handbewegungen.«
»Wenn es bei der Person, die Asperger hat, Probleme mit der Motorik gibt, hat sie diese dann ständig?« Martin erinnerte sich an Morgans Finger, die geschmeidig über die Tastatur flogen.
»Nein. Es ist üblich, daß sie im Zusammenhang mit ihrem Spezialinteresse, oder wenn sie etwas anderes tut, was sie fesselt, eine äußerst gut funktionierende Feinmotorik besitzt.«
»Wie sehen die Jugendjahre bei Leuten mit diesem Syndrom aus?«
»Ja, das ist eine Sache für sich. Aber willst du dir nichts notieren, oder hast du ein so gutes Gedächtnis?«
Martin wies auf das kleine Aufnahmegerät, das er auf den Tisch gestellt hatte. »Mein Gehilfe kümmert sich um die Sache.« Eva nickte. »Die Jugendjahre. Da wird es erneut ziemlich schwer, Asperger bei einer Person zu diagnostizieren, falls er oder sie die Diagnose nicht schon früher erhalten hat. Da tauchen so viele der normalen Schwierigkeiten auf, aber durch Asperger verstärken sie sich, werden noch extremer. Die Hygiene ist zum Beispiel ein großes Problem. Viele schlampen bei der täglichen Hygiene, wollen nicht duschen, nicht die Zähne putzen oder die Kleidung wechseln. Der Schulbesuch wird problematisch. Es fällt ihnen schwer, zu verstehen, wie wichtig es ist, sich in der Schule anzustrengen, und
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