Die Tore der Welt
Eröffnung überraschte ihn nicht. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, entgegnete
er. »Ich denke immerzu darüber nach.«
»Willst du ein
Stück mit mir gehen?« »Ja.« Sie ließen die Arbeiter am Ufer zurück und stiegen
zur Hauptstraße hinauf. Nach dem Gewimmel des Wollmarkts herrschte nun Grabesstille
in der Stadt. Alle waren in ihren Häusern, kümmerten sich um die Verletzten
oder trauerten um die Toten.
»Es gibt wohl kaum
eine Familie in der Stadt, die keinen Toten oder Verletzten zu beklagen hat«,
bemerkte Caris. »Es müssen gut tausend Menschen auf der Brücke gewesen sein —
all die Gaffer, die wegen Neil gekommen waren, dazu die Händler und Krämer, die
unsere Stadt nach dem Markt verlassen wollten. In der Kirche liegen mehr als
hundert Tote, und wir haben wohl an die vierhundert Verletzte versorgt.«
»Und fünfhundert
haben Glück gehabt«, sagte Merthin.
»Wir hätten auch
auf der Brücke oder in der Nähe sein können.
Du und ich, wir
könnten jetzt auch im Chor liegen, kalt und steif.
Aber wir haben ein
Geschenk bekommen: den Rest unseres Lebens. Und wir dürfen dieses Geschenk
nicht wegen eines einzigen Fehlers einfach wegwerfen.«
»Das ist kein
›Fehler‹«, sagte Merthin gereizt. »Es ist ein Kind, ein Mensch mit einer
Seele!«
»Du bist auch ein
Mensch mit einer Seele — einer guten Seele und großem Herzen. Überleg doch nur,
was du bis eben gemacht hast. Drei Leute haben am Fluss das Sagen: Der eine ist
der wohlhabendste Baumeister der Stadt, der andere ist Matricularius der
Priorei, und der Dritte, das bist du — ein einfacher Lehrling von nicht einmal
einundzwanzig Jahren. Dennoch gehorchen die Bürger dir ebenso bereitwillig wie
Elfric und Thomas.«
»Das heißt noch
lange nicht, dass ich mich vor meiner Verantwortung gegenüber Griselda drücken
kann.«
Sie bogen auf das
Klostergelände ein. Das Grün vor der Kathedrale war nach den Markttagen
zertrampelt und zerfurcht, und überall gab es Schlammflecken und Pfützen, In
den drei großen Westfenstern der Kirche sah Caris die Spiegelbilder einer wässrigen
Sonne und zerrissener Wolken, ein geteiltes Bild wie ein Triptychon.
Eine Glocke läutete
zur Abendandacht.
Caris sagte: »Denk
doch nur, wie oft du davon geredet hast, dir die berühmten Bauwerke in Paris
und Florenz anzuschauen. Willst du das alles aufgeben?«
»Das muss ich wohl.
Ein Mann darf Weib und Kind nicht im Stich lassen.« »Du betrachtest Griselda
schon als dein Weib?« Merthin drehte sich zu ihr um. »Ich werde Griselda nie
als mein Weib betrachten«, sagte er verbittert. »Du weißt, wen ich liebe.«
Dieses eine Mal wollte Caris keine kluge Antwort einfallen. Sie öffnete den
Mund, um etwas zu sagen, doch kein Laut kam ihr über die Lippen.
Stattdessen spürte
sie, wie ihr die Kehle eng wurde. Sie blinzelte die Tränen fort und wandte sich
ab, um ihre Gefühle zu verbergen.
Merthin nahm sie
bei den Armen und zog sie zu sich heran. »Du weißt es, nicht wahr?«
Caris zwang sich,
ihm in die Augen zu sehen. »Tue ich das?« Sie musterte ihn durch einen
Tränenschleier.
Merthin küsste sie
auf den Mund. Es war eine andere Art von Kuss, anders als alles, was Caris
bisher erlebt hatte. Merthin drückte seine Lippen sanft, aber nachdrücklich auf
die ihren, als wäre er entschlossen, einen erinnerungswürdigen Augenblick
daraus zu machen … und da erkannte Caris, dass Merthin glaubte, dies sei ihr
letzter Kuss.
Caris klammerte
sich an ihn, wollte, dass der Kuss ewig andauerte, doch nur zu bald löste
Merthin sich von ihr.
»Ich liebe dich«,
sagte er. »Aber ich werde Griselda heiraten.«
Das Leben und
Sterben ging weiter. Kinder wurden geboren, und alte Menschen starben. Am
Sonntag griff Emma Butcher ihren ehebrecherischen Mann in einem Anflug von
eifersüchtigem Zorn mit seinem größten Hackmesser an. Am Montag verschwand
eines von Bess Hamptons Hühnern und wurde im Topf über Glynnie Thompsons
Herdfeuer entdeckt, woraufhin John Constable Glynnie die Kleider vom Leib riss
und sie auspeitschte. Am Dienstag arbeitete Howell Tyler auf dem Dach der
Kirche von St. Mark, als ein verrotteter Balken unter ihm nachgab, sodass er
durch die Decke brach. Er stürzte ins Kircheninnere und war auf der Stelle tot.
Am Mittwoch waren
die Trümmer der Brücke bis auf die Stümpfe der Strompfeiler weggeräumt, und das
Holz war am Ufer gestapelt.
Die Fahrrinne war
offen; Barken und Flöße
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