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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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und riefen Gott, die Heiligen oder ihre Mütter um Hilfe an. Jammern
und Klagen erfüllte das Gotteshaus, und immer wieder erklangen Schreie des
Entsetzens, wenn jemand einen geliebten Menschen unter den Leichen entdeckte.
Die Lebenden wie die Toten wiesen grässliche Wunden und grotesk verdrehte
Gliedmaßen auf; die Körper waren voller Blut, die Kleider zerrissen und nass.
Der Steinboden der Kirche war rutschig von Wasser und Uferschlamm, Blut und
Körperflüssigkeiten.
    Doch inmitten all
dieses Schreckens gab es einen kleinen Bereich der Ruhe und Geschäftigkeit,
dessen Mittelpunkt Mutter bildete. Wie ein kleiner emsiger Vogel huschte sie
von einer liegenden Gestalt zur nächsten, und ein Schwärm Nonnen flatterte ihr
hinterdrein, darunter Mutter Cecilias langjährige Gehilfin, Schwester Juliana,
die von allen nur respektvoll die alte Julie genannt wurde.
    Während Mutter
Cecilia die Patienten untersuchte, erteilte sie Befehle zum Waschen, Salbe auftragen,
Verbände anlegen oder zum Verabreichen von Kräutermedizin. Bei den schweren
Fällen rief sie nach Mattie Wise, Matthew Barber oder Bruder Joseph. Mutter Cecilia
sprach stets ruhig und klar; ihre Anweisungen waren schlicht, aber
unmissverständlich. Nachdem sie sich um einen Verletzten gekümmert hatte, war
dieser zumeist getröstet und die Verwandtschaft beruhigt und voller Hoffnung.
    Caris erinnerte die
Szenerie mit schrecklicher Lebendigkeit an den Tag, an dem ihre Mutter
gestorben war. Auch damals hatte es Angst und Verwirrung gegeben, wenngleich
nur in Caris‘ Herzen, doch auch damals schien Mutter Cecilia gewusst zu haben,
was zu tun war, als wäre sie von einer himmlischen Stimme geleitet worden. Zwar
war Caris‘ Mutter trotz Cecilias Hilfe gestorben — wie auch heute zweifellos
viele Leute sterben würden —, doch als es so weit gewesen war, hatte jeder das
Gefühl gehabt, alles getan zu haben, was in seiner Macht stand.
    Viele Menschen
beteten zur Muttergottes oder zu den Heiligen, wenn jemand krank war, doch
Caris machten solche Gebete nur unsicher und ängstlich, konnte man doch
unmöglich wissen, ob die Heiligen einem helfen, ja, ob sie einen überhaupt
hören würden.
    Mutter Cecilia war
natürlich nicht so mächtig wie die Heiligen — das hatte auch die zehnjährige
Caris schon gewusst —, doch ihre beruhigende Art hatte Hoffnung und Trost
zugleich vermittelt, und dies auf eine Weise, dass ihre Seele Frieden gefunden
hatte.
    Nun wurde Caris zu
einem Teil von Mutter Cecilias Gefolge, ohne eine bewusste Entscheidung zu
treffen oder auch nur darüber nachzudenken: Caris befolgte die Befehle der
energischsten Person in der Kirche — so wie die Leute am Flussufer Caris‘
Anweisungen befolgt hatten, kurz nach dem Einsturz der Brücke, als niemand
sonst gewusst hatte, was zu tun gewesen war. Mutter Cecilias freundliches und
dennoch zupackendes Wesen war ansteckend, und bald zeigten alle Helferinnen in
ihrer Umgebung eine ähnlich ruhige Entschlossenheit. So hielt Caris eine kleine
Schüssel Essig, während eine hübsche Nonne mit Namen Mair ein Tuch hinein tauchte
und Susanna Chepstow, der Frau eines Holzhändlers, das Blut aus dem Gesicht
wischte.
    Sie arbeiteten ohne
Unterlass bis weit nach Einbruch der Dunkelheit. Dank des langen Sommerabends
hatten sämtliche im Wasser treibenden Unfallopfer noch im Hellen geborgen
werden können — obwohl wohl niemand je erfahren würde, wie viele Ertrunkene auf
den Grund gesunken oder den Fluss hinunter getragen worden waren. Von der
verrückten Neil jedenfalls fand sich keine Spur; vermutlich hatte der Karren,
an den sie gefesselt gewesen war, sie in die Tiefe gezogen. Friar Murdo
hingegen hatte ungerechterweise überlebt. Tatsächlich hatte er sich sogar nur
den Fuß verdreht und war in Bells Gasthaus gehumpelt, um sich erst einmal bei
heißem Schinken und starkem Bier zu erholen.
    Die Behandlung der
Verletzten wurde die Nacht hindurch fortgesetzt. Irgendwann waren einige Nonnen
so erschöpft an Leib und Seele, dass sie nicht mehr konnten; andere waren vom
Ausmaß der Tragödie dermaßen niedergedrückt, dass sie fortgeschickt werden
mussten, doch Caris und ein kleiner Trupp Unermüdlicher machten weiter, bis es
nichts mehr zu tun gab. Es war schon weit nach Mitternacht, als der letzte
Knoten am letzten Verband festgezogen wurde; dann schlurfte Caris über den
Kathedralenvorplatz zum Haus ihres Vaters.
    Vater und
Petronilla saßen beisammen,

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