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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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und Roley
auf dieser Bank Platz nahmen. Die Menschen waren immer gebannt, wenn sie die
Kinder sahen, die zu ihren künftigen Herren heranwuchsen. Vor allem aber,
vermutete Ralph, hatten die beiden kindlichen Jungen eine Unschuld an sich, die
in einem Gericht, das sich mit Gewalt, Diebstahl und Unehrlichkeit zu befassen
hatte, fehl am Platze wirkte. Sie wirkten wie Lämmer in einem Schweinekoben.
    Ralph nahm auf
einem der beiden Sessel Platz und dachte an den Tag vor zweiundzwanzig Jahren,
als er, der Frauenschändung angeklagt, in diesem Gerichtssaal gestanden hatte
— ein lächerlicher Vorwurf gegen einen Grundherrn, wenn das sogenannte Opfer
eine seiner Hörigen war. Hinter dieser boshaften Verfolgung hatte niemand
anderer als Philippa gesteckt. Nun, dafür hatte er sie leiden lassen.
    Bei jenem Prozess
hatte sich Ralph den Weg aus dem Saal freigekämpft, kaum dass die Geschworenen
ihn schuldig gesprochen hatten, und war begnadigt worden, als er ins königliche
Heer eintrat und nach Frankreich ging. Sam würde nicht entkommen: Er hatte
keine Waffe, und seine Füße waren aneinandergekettet. Und die französischen
Kriege schienen auch vorüber zu sein, sodass es keinen Pardon für Freiwillige
mehr gab.
    Ralph musterte Sam,
als die Anklage verlesen wurde. Er war gebaut wie Wulfric und nicht wie Gwenda:
ein großer Junge mit breiten Schultern. Wäre er etwas höher geboren worden,
hätte er einen brauchbaren Gefolgsmann abgeben können. Wulfric sah er eigentlich
kaum ähnlich, aber trotzdem kamen seine Züge Ralph bekannt vor. Wie so viele
Angeklagte trug er einen Ausdruck oberflächlichen Trotzes, unter dem sich die
Furcht verbarg. Genauso habe ich mich gefühlt, dachte Ralph.
    Nathan Reeve trat
als erster Zeuge auf. Er war der Vater des Toten, und, noch wichtiger, er
bezeugte, dass Sam ein Höriger von Graf Ralph war und keine Erlaubnis erhalten
hatte, nach Oldchurch zu gehen. Er sagte aus, er habe seinen Sohn Jonno ausgeschickt,
damit dieser Gwenda folge, in der Hoffnung, den Landflüchtigen zu finden. Nate
weckte wenig Sympathien, doch an der Aufrichtigkeit seiner Trauer konnte
niemand zweifeln. Ralph war zufrieden: Die Aussage hatte vernichtendes Gewicht.
    Neben Sam stand seine
Mutter; sie reichte ihrem Sohn nur bis zur Schulter. Gwenda war keine schöne
Frau: Ihre dunklen Augen saßen dicht an der Hakennase, und ihre Stirn und ihr
Kinn wichen scharf zurück, sodass sie das Aussehen eines entschlossenen Nagetiers
hatte. Dennoch ging, obschon sie bereits im mittleren Alter war, eine starke
sexuelle Anziehung von ihr aus. Dass Ralph mit ihr gelegen hatte, war über
zwanzig Jahre her, doch er erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern
geschehen. Sie hatten es in einem Zimmer des Bell in Kingsbridge getan, und er
hatte sie auf dem Bett knien lassen. Er sah es selbst jetzt noch vor sich, und
die Erinnerung an ihren kompakten Leib erregte ihn. Sie hatte viel dunkles
Haar, erinnerte er sich.
    Plötzlich trafen
sich ihre Blicke. Sie wich ihm nicht aus und schien zu spüren, was er dachte.
Auf jenem Bett war sie gleichgültig und reglos gewesen, anfangs jedenfalls, und
hatte seine Stöße passiv hingenommen, weil er sie zwang; doch am Ende hatte
etwas Eigenartiges sie überkommen, und fast gegen ihren Willen hatte sie sich
rhythmisch mit ihm bewegt. Sie musste an das Gleiche denken, denn ein
schamhafter Ausdruck zog über ihr reizloses Gesicht, und sie sah rasch weg.
    Neben ihr stand ein
anderer junger Mann, der jüngere Sohn vermutlich. Er sah Gwenda ähnlicher als
Sam, war klein und drahtig und erweckte einen listigen Eindruck. Er erwiderte
Ralphs Blick mit einem durchdringenden Starren, einem Ausdruck intensiver Konzentration,
als sei er neugierig, was im Kopf eines Grafen vor sich ging, und glaubte, in
Ralphs Gesicht vielleicht die Antwort finden zu können.
    Doch am meisten
interessierte sich Ralph für den Vater. Seit ihrem Kampf auf dem Wollmarkt von
1337 hasste er Wulfric. Unwillkürlich ging seine Hand zu seiner gebrochenen
Nase. In späteren Jahren war er von anderen Männern mehrfach verwundet worden,
aber niemand hatte ihn so schwer in seinem Stolz verletzt. Dafür jedoch war
Ralphs Rache an Wulfric furchtbar gewesen. Ein ganzes Jahrzehnt lang habe ich
ihm sein Geburtsrecht verweigert, dachte Ralph. Ich habe mit seiner Frau
gelegen. Ich habe ihm die Narbe auf der Wange beigebracht, als er versuchte,
mich an der Flucht aus diesem Gerichtssaal zu

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