Die Tore der Welt
könntest es.« Merthin kam sich vor, als
sitze er in der Falle. Er fand nicht, dass Sam einen Gnadenerlass verdiente.
Andererseits war es schwierig, eine bittende Mutter zurück zu weisen. Er
fragte: »Ich habe schon einmal zu deinen Gunsten bei meinem Bruder vorgesprochen
— erinnerst du dich?« »Gewiss«, sagte Gwenda. »Weil Wulfric nicht seines Vaters
Land erben sollte.« »Er hat mich rundheraus abgewiesen.« »Das weiß ich«, sagte
sie. »Aber du musst es versuchen.« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu der
beste Mann bin.« »Wen sonst würde er anhören?« Da hatte sie recht. Merthin
besaß nur geringe Erfolgsaussichten, aber jeder andere brauchte es gar nicht
erst zu versuchen.
Caris bemerkte sein
Zögern und unterstützte Gwenda. »Bitte, Merthin«, sagte sie. »Stell dir vor,
wie du dich fühlen würdest, wenn es um Lolla ginge.«
Er wollte
entgegnen, dass Mädchen nicht kämpften, doch dann begriff er, dass es in Lollas
Fall durchaus so weit kommen konnte, und er seufzte. »Ich halte den Versuch für
aussichtslos«, sagte er und sah Caris an. »Aber um deinetwillen werde ich zu
ihm gehen.«
»Warum gehst du
nicht gleich?«, fragte Gwenda. »Weil Ralph noch im Gericht sitzt.«
»Gleich ist
Mittagszeit. Sie sind bald fertig. Du könntest in seinem Zimmer auf ihn
warten.«
Ihre
Entschlossenheit musste er bewundern. »Also gut«, sagte er.
Er verließ die
Schankstube und ging auf die Rückseite des Gasthauses. Vor dem Privatgemach des
Richters stand ein Wachposten. »Ich bin der Bruder des Grafen«, sagte Merthin.
»Ratsältester Merthin von Kingsbridge.«
»Jawohl, Herr, ich
kenne Euch«, sagte der Wächter. »Es wird wohl recht sein, wenn Ihr drinnen
wartet.«
Merthin ging in den
kleinen Raum und setzte sich. Ihm war unbehaglich bei dem Gedanken, seinen
Bruder um einen Gefallen zu bitten. Sie standen einander seit vielen Jahren
nicht mehr nahe. Ralph war schon vor langer Zeit zu einem Menschen geworden,
den Merthin nicht mehr wieder erkannte. Der Mann, der Annet schänden und Tilly
ermorden konnte, war Merthin fremd. Seit dem Tod ihrer Eltern hatten sie sich
nur noch zu offiziellen Anlässen gesehen, und selbst dann sprachen sie wenig
miteinander. Es war aufdringlich, wenn er nun ihre Verwandtschaft zum Vorwand
nahm, ein Privileg zu erbitten. Für Gwenda hätte er es nicht getan. Doch da
Caris ihn gebeten hatte, musste er sich überwinden.
Lange brauchte er
nicht zu warten. Schon nach einigen Minuten kamen der Richter und der Graf
herein. Merthin bemerkte, dass das Hinken seines Bruders — die
Hinterlassenschaft einer Wunde, die er in den französischen Kriegen erlitten
hatte — mit dem Alter schlimmer wurde.
Sir Lewis erkannte
Merthin und reichte ihm die Hand. Während Ralph es dem Richter gleichtat, sagte
er ironisch: »Ein Besuch meines Bruders ist ein seltenes Vergnügen.« Der Stich
ging nicht tief, und Merthin quittierte ihn mit einem Nicken. »Andererseits«,
sagte er, »bin ich wohl der Einzige, der ein Recht hätte, dich um Gnade
anzugehen.« »Welcher Gnade bedarfst du denn? Hast du jemanden getötet?« »Noch
nicht.«
Sir Lewis lachte
stillvergnügt in sich hinein. »Was dann?«, fragte Ralph.
»Du und ich kennen
Gwenda, seit wir alle Kinder waren.« Ralph nickte. »Ich habe mit dem Bogen, den
du gemacht hattest, ihren Hund erschossen.« Merthin hatte diesen Zwischenfall
vergessen. Im Nachhinein begriff er, dass es sich dabei um ein frühes Zeichen gehandelt
hatte, wie Ralph geraten würde. »Vielleicht schuldest du ihr deshalb ein wenig
Gnade.« »Ich finde, Nate Reeves Sohn ist mehr wert als ein dreibeiniger Köter.
Siehst du das etwa nicht so?« »Gewiss. Nur dass du die Grausamkeit von damals
vielleicht heute mit Freundlichkeit aufwiegen könntest.« »Aufwiegen?«,
erwiderte Ralph, und Zorn stieg in seiner Stimme auf. Merthin wusste, dass er
verloren hatte. »Aufwiegen?« Er klopfte sich gegen die gebrochene Nase. »Was
sollte ich dagegen aufwiegen?« Hitzig wies er mit dem Finger auf Merthin. »Ich
will dir sagen, weshalb Sam keine Gnade bekommt. Weil ich heute im Gerichtssaal
Wulfrics Gesicht gesehen habe, als sein Sohn des Mordes für schuldig erklärt
wurde, und weißt du, was ich dort sah? Angst. Der freche Bauer hat endlich
Angst vor mir. Ich habe ihn gezähmt.« »Bedeutet dir das so viel?«
»Dafür würde ich
sechs Männer hängen.« Merthin wollte schon aufgeben, doch dann dachte er an Gwenda
in
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