Die Tore des Himmels
Luft, der Einäugige stößt einen schrillen Schrei aus und taumelt davon, ab in den Wald. Ich hab gar nicht mitgekriegt, was los ist, aber dann sehe ich was auf dem Boden zucken. Eine Hand. Blut ist überall, eine rote Spur führt dahin, wohin der andere abgehauen ist. Mir wird schlecht. Ich falle neben die Leiche von Hans auf die Knie, würge und kotze, bis bloß noch Galle kommt.
Die anderen zerren derweil alle drei an dem Esel herum. Und dann, gerade als ich aufschaue und mir die Kotze vom Mund wische, sehe ich Reiter von Mühlhausen her kommen. »Obacht!«, schreie ich und deute in ihre Richtung. Sie sind noch ein Stück weg, aber wir werden es nicht mehr schaffen, den Esel fortzukriegen, bis sie da sind. Die Kiste abschnallen geht auch nicht mehr, die ist zu gut verschnürt.
»Zu Hilfe«, ruft der Einäugige und Einhändige und wankt aus dem Wald auf die Reiter zu. »Helft mir!« Die Männer geben ihren Pferden die Sporen.
»Gottverdammich!«, schreit Ortwin. »Weg! Jeder einzeln!«
Wir flüchten in den Wald.
Ich renne und renne, bis ich nicht mehr kann, und lasse mich dann hinter einer dicken Eiche auf den Boden fallen. Ich bin völlig fertig. Das Blut von Hans ist überall an meinen Kleidern. Ich weiß nicht, wo Michel ist. Ich weiß nicht, ob die uns verfolgen. O Gott, ich hab so eine Scheißangst! Wenn die uns erwischen, bringen sie uns entweder gleich um, oder wir kommen an den Galgen. Nie, nie mehr mache ich so was mit, das schwöre ich bei Gott und allen Heiligen. Wenn ich überhaupt davonkomme. Die ganze Zeit über muss ich an die Wahrsagerin denken, die mir vor so langer Zeit vorhergesagt hat, ich würde nicht nur Böses sehen, sondern auch Böses tun. Heute ist ihre Prophezeiung wahr geworden!
Ich bleibe liegen bis zum späten Nachmittag, unfähig, mich zu rühren. Dann mache ich mich auf den Rückweg. Unterwegs wasche ich meine Kleider am nächsten Bach, so gut es geht, vom Blut sauber. Nass und schlotternd komme ich abends am Georgentor an und schleiche mich unbemerkt in der Deckung eines Holzkarrens in die Stadt.
Als ich heimkomme, ist Michel schon da. Ich bin so froh, dass ich ihm um den Hals falle. Mutter schaut uns misstrauisch an, aber natürlich sagen wir kein Sterbenswörtchen, wo wir waren.
Ein paar Tage später kann das Hannolein nicht mehr aufstehen. Sein Bauch ist jetzt richtig dick aufgeschwollen. Das Irmel hat in der Nacht angefangen, an seinem Hemdchen herumzukauen, ein ganzes Loch hat sie schon hineingefressen. Und die Mutter ist nach dem Aufstehen fast hingefallen, weil sie schwindlig vor Schwäche war. Und dann hat sie geweint und ihren Rocksaum aufgeschnitten und den silbernen Halbpfennig herausgeholt, den ich damals in Stregda geschenkt bekommen habe. Unseren allerletzten Nothelfer, den wir nur im schlimmsten Fall angreifen wollten. »Primus«, sagt sie leise, »ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Geh los und kauf Essen, sonst verlieren wir das Irmel und das Hannolein.«
Was ich für den Pfennig kriege, ist ein Witz. Buchweizenmehl, ein vergammelter Krautskopf, ein Säckchen Graupen, ein bisschen Schmalz. Das reicht gerade mal für eine Woche, denke ich und schlucke meine Tränen hinunter. Und dann?
Zwei Wochen später geht die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die Landgräfin speist die Armen! Sie kommt einmal täglich vors Burgtor und verteilt Essen. Also tun wir das, was auch die anderen Bettler machen, um nicht zu verhungern. Mutter, Ida und ich – der Michel muss auf die Kleinen aufpassen – schleppen uns den ganzen langen Weg hinauf zur Wartburg. Dort lungert schon eine Riesenmenge Elendsgestalten vor dem Tor herum und wartet. Sie wollen uns erst nicht dazulassen und schubsen und treten uns. Aber dann nehme ich mein Messer und ziehe es vor lauter Wut und Verzweiflung dem Nächstbesten über die Hand. Da lassen sie uns in Ruhe, und wir setzen uns an die Mauer. Mutter betet. Und ich denke, vielleicht sieht mich Gislind, mein Engel, und holt uns herein und wir kriegen Honigbrei und süße Wecken und Milch und Apfelmus und Hühnchen und ichweißnichtwas. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, und gleichzeitig bohrt und wühlt es in meinem Magen. Ich schaue mir die anderen Leute an. Den meisten geht’s noch schlechter als uns. Da sind welche, die haben überall Geschwüre. Frauen mit Neugeborenen, die zu schwach zum Schreien sind. Alte, die sich auf Knien herumschleppen. Krüppel, Einbeinige, Lahme, Blinde. Manche liegen einfach da, völlig
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