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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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auf die Dörfer gegangen sind und die armen Viecher mit Hauruck auf die Beine gestellt haben. Die sind dann auf die Weide gewankt, da hat man kaum hinschauen mögen, knochendürre Klappergestelle. Nicht mal muhen haben die mehr können. Bis die wieder so weit sind, dass sie kalben und Milch geben, das dauert. Viele sind ja auch einfach verreckt, und die Bauern haben dann ihre Höfe aufgegeben und sind in die Städte oder vor die Klöster gezogen, um nicht zu verhungern. Als ich mit Michel einmal nach Gotha gewandert bin, um ein paar geklaute Sachen zu verhökern, da haben wir sie gesehen. Ganze Scharen von Bettlern auf den Landstraßen, elende Lumpengestalten, die kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnten. Sie essen Rinde und Wurzeln, Brennnesseln und anderes Grünzeug. Wehe dem Hund oder der Katze, die ihnen über den Weg läuft! Ich habe Tote am Wegrand gesehen, Kinder und Alte. Die hat man einfach liegen lassen, weil keiner die Kraft hatte, ihnen ein Grab zu schaufeln. Und es heißt, dass nachts manche aus der Bettlerschar wieder zurücklaufen, und danach sind die Leichen weg, aufgefressen. Jesusmariaundjosef, würde die Mutter sagen! Man hat uns erzählt, dass es welche gibt, die locken kleine Kinder mit einem Ei oder einem Apfel in den Wald, und dann … Ich habe nicht gewusst, dass Hungersnot so schrecklich sein kann, obwohl ich doch selber mein ganzes Leben nie satt geworden bin. Auf dem Heimweg von Gotha mussten wir uns vor dem Stadttor durch das Bettlerlager zwängen. Da hat ein kleines Mädchen mit ganz großen Augen gefragt: »Mutter, kann man Gras nicht essen?« Ihr Gesicht hat ausgesehen wie das von einer uralten Frau. Ich hab ihr heimlich das Brot geschenkt, das eigentlich meine Wegzehrung war, obwohl Michel mich gefragt hat, ob ich noch ganz bei Trost bin. Wir haben ja selber nichts, weil wegen der Teuerung unser ganzes Erspartes aus Michels Überfall schon weg ist. Jetzt müssen Michel und ich halt wieder auf Beutelschneiden gehen. Das Dumme ist bloß, dass inzwischen kaum einer mehr was zum Klauen hat. Die haben alle ihre letzten Kröten für Essen ausgegeben.
     
    Als Michel und ich heimkommen, fällt mir zum ersten Mal auf, dass das Hannolein irgendwie dicker geworden ist. »Wo kriegst du was zum Essen her?«, frage ich ihn, und er schaut mich bloß verdutzt an. Ich schüttle ihn. »Du sagst jetzt sofort, wo du was herhast!« Sein Auge rollt weg, und er fängt an zu heulen, und Mutter zieht mich von ihm fort. »Er kriegt einen Hungerbauch«, sagt sie. »Da ist nichts wie Luft drin, achgottachgott.«
    Da tut es mir leid, dass ich so gemein zum Hannolein war. Und ich hab Angst, schreckliche Angst. Irgendwas muss geschehen, sonst gehören wir zu den ersten in der Stadt, die verhungern. Wir bekommen jetzt keine Almosen mehr, weil sie kein Mehl mehr im städtischen Getreidekasten haben. Bloß noch Brennholz geben sie uns, davon hat’s noch genug, aber das kann man nun mal nicht essen, und was wir damit kochen sollen außer Wasser, wissen wir auch nicht.
    Am Nachmittag suche ich Ortwin. Meist treibt er sich in der Nähe der Badstube herum, und da finde ich ihn auch, wie er an der Ecke zum Marktplatz lehnt und sich mit einem Holzspreißel in den Zähnen stochert.
    »Wie geht’s, wie steht’s?«, frage ich erst mal vorsichtig.
    »Kann mich nicht beschweren«, antwortet er und spuckt aus. Dann schaut er mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Du willst doch was von mir, oder? Also, was ist?«
    Ich räuspere mich und sehe mich um, ob jemand mithören kann. »Hast du was zu tun für mich? Ich meine, was Richtiges.«
    Ortwin runzelt die Stirn, und die Haut über seiner Narbe spannt sich. »Hm«, macht er. »Bisher wolltest du doch nicht.«
    »Da war ich auch in Lohn und Brot. Und dann hatten wir das Geld vom Michel, aber das ist jetzt alle. Mensch, Ortwin, du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst. Ich brauch dringend was. Wir sind am Verhungern, wie die armen Schweine draußen vorm Stadttor.«
    »Na schön, weil du’s bist.« Ortwin haut mir mit seiner riesigen Pranke auf die Schulter. »Du hörst von mir.«
    Ein paar Tage später fängt er mich und den Michel vor der Nikolaikirche ab. »Morgen früh«, sagt er. »Zwei Wegstunden vor der Stadt, an der Straße nach Mühlhausen, dort beim Markstein, wo der Wald dicht wird.«
    »Worum geht’s?«
    »Werdet ihr schon sehen. Wenn’s klappt, haben wir keine Sorgen mehr. Nehmt eure Messer mit und wetzt sie schön scharf.« Dann ist

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