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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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ich durch die Gänge. Die Leute kamen grade vom Morgenessen, ich wich ihnen aus, rempelte irgendjemanden an. Blind lief ich weiter. Dann spürte ich zwei Hände an den Schultern, die mich aufhielten. Es war ausgerechet der letzte Mensch, dem ich jetzt hätte begegnen wollen: Raimund von Kaulberg. »Was ist los, um Gottes willen?«, fragte er. Ich konnte keinen Ton herausbringen. Sanft berührte er mit dem Zeigefinger meine Schläfe. »Du blutest.«
    Bis zu diesem Augenblick hatte ich gar keinen Schmerz gespürt, aber jetzt merkte ich, dass es in meinem Kopf stach und pochte. »Ich bin ausgerutscht und mit dem Kopf gegen eine Truhe geschlagen«, log ich.
    »Komm mit«, sagte er nur. Er zog mich in eine ruhige Fensternische und tupfte mir mit seinem Fazenettlein das Blut ab. »Nur ein Kratzer«, meinte er. »Aber es schwillt schon an. Du musst es mit einem nassen Tuch kühlen.«
    Ich versuchte verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten, und es gelang mir sogar. »Danke«, sagte ich mit erstickter Stimme.
    Er nickte und sah mir forschend in die Augen. »Und wenn ich denjenigen erwische, der dich gestoßen hat, dann gnade ihm Gott.«
    Ich flüchtete ins Frauenzimmer, warf mich aufs Bett und ließ meinen Tränen freien Lauf.

Primus
    S eit der Michel tot ist, ist nichts mehr wie früher. Die Mutter hat keine Freude mehr an überhaupt nichts. Oft sitzt sie stundenlang einfach nur da. Das Irmel hat ihn wochenlang in allen Ecken gesucht, als ob er sich bloß versteckt hätte. Die Ida redet manchmal von ihm, als ob er noch da wäre, und dann erschrickt sie selber. Das Hannolein hat erst nach und nach begriffen, dass er tot ist, und ich glaube, inzwischen hat er ihn vielleicht vergessen. Nur wenn wir am Sonntag nach der Messe alle miteinander an sein Grab gehen, fällt es ihm wieder ein, und dann heult er.
    Ich hab seit ein paar Monaten eine Arbeit als Handlanger im Schlachthaus. An den Schlachttagen muss ich mich um die Abfälle kümmern. Die Gedärme reinigen, die Knochen und Fleischreste in die Garküche bringen, die Häute zu den Gerbern tragen. Danach Blut und Scheiße auf den Steinfliesen mit viel Wasser auflösen und mit dem Reisigbesen alles in das Loch im Boden kehren, unter dem der kleine Bach in die Hörsel fließt. Dafür krieg ich jedes Mal einen halben Pfennig. Und natürlich bringe ich von den Fleischabfällen für die Garküche was auf die Seite, für daheim. Zusammen mit dem Almosen, das wir immer noch vom Magistrat kriegen, und dem, was ich fürs Aufpassen bei den Ketzern bekomme, langt das grad, um nicht zu verhungern. Manchmal, wenn die Gelegenheit gut ist, klau ich auch was oder versuche, einen Beutel zu schneiden, aber ich bin nicht so geschickt.
    Ohne den Michel ist es schwer.
     
    Und dann komme ich eines Abends nach dem Aufpassen heim und merke, dass im Bett ein Platz frei ist. Die Mutter ist weg. Auf dem Abort im Hof ist sie auch nicht, und ich kriege richtig Angst. Ihr ist doch alles gleich in letzter Zeit, und da tut einer sich leicht was an, sagt die Hausmännin. Ich schaue durchs Fenster in die Wirtsstube vom »Wilden Mann«, ob sie da drin ist. Aber da sind keine Gäste mehr, bloß die Schankmagd räumt noch auf. Und dann höre ich ein Geräusch aus dem kleinen Vorratsschuppen hinter der Taverne. Ich renne hin und spähe durch die angelehnte Holztür. Auf dem Boden steht ein kleines, flackerndes Talglicht, also sehe ich, was ich gar nicht sehen will.
    Mutter beugt sich bäuchlings über einen großen Sack. Hinter ihr der grässliche Wirt; er hat ihr Unterkleid hochgeschoben und rammelt sie von hinten wie ein Karnickel. Sie hat das Gesicht vor Ekel verzogen und die Augen geschlossen, ihre Finger sind in den Sack gekrallt. Mir entschlüpft unwillkürlich ein Geräusch, und sie macht die Augen auf, schaut mich geradewegs an. Ich sehe, wie sie sich schämt. Ich möchte am liebsten hineingehen, dem Wirt in die Eier treten, aber da ist er auch schon fertig und lässt von ihr ab. Zufrieden grunzend knöpft er seinen Hosenlatz zu. Dann schneidet er vom Reck eine Wurst ab und drückt sie ihr in die Hand. Zum Schluss kneift er sie noch in den Hintern.
    Ich renne zurück in unsere Schweinestall-Behausung. Mutter läuft mir nach. »Denk nicht schlecht von mir«, sagt sie. »Aber wovon sollen wir sonst die Miete zahlen?«
    Ich nicke und schlucke. Die Wurst riecht gut, und ich merke, wie hungrig ich bin. Sie hat ja recht, irgendwie müssen wir ja leben. Und ich bin ein Nichtsnutz, weil ich nicht für meine

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