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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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Aufgebot sein Feldlager aufgeschlagen. Vielleicht hundert Zelte standen auf einer freien Ackerfläche, die meisten davon aus einfachem Filz oder Wachstuch und gerade so groß, dass ein oder zwei Mann darin schlafen konnten. Aber es gab auch prächtige, bemalte Unterkünfte, geräumig und bequem, auf denen ganz oben bunte Fahnen flatterten. Man konnte auf ihnen die Wappen fast des gesamten thüringischen Adels sehen, denn kaum einer in waffenfähigem Alter hatte es sich nehmen lassen, den Landesherrn nach Outremer zu begleiten. Einundzwanzig Grafen und Ritter waren in den letzten Tagen mit ihrem Gefolge am Treffpunkt angekommen und warteten auf den großen Augenblick des Aufbruchs. Schmalkalden hatte man gewählt, weil es der südlichste feste Ort des Territoriums war und die Grenze nach Franken nicht weit.
    Überall brannten die Kochfeuer, es roch nach Rauch und Eintopf, nach den Latrinen, die man eilig gegraben hatte, nach Leder und Pferdemist. Mensch und Tier wimmelten durcheinander. Wer vom Adel es sich leisten konnte, war mit zwei Pferden gekommen, einem für die Reise und einem erprobten Streithengst für den Kampf. Dazu berittene Dienerschaft, Wagen mit Zugochsen, Maultiere, Packesel. Die Ritter erkannte man an ihren flatternden hellen Umhängen, auf denen das flammendrote Kreuz des Heiligen Krieges aufgenäht war. Die langen, beidseitig geschliffenen Kampfschwerter hingen schwer an ihrer Seite.
    Die einfachen Leute nächtigten unter freiem Himmel, trugen, sofern sie es sich leisten konnten, feste Reisekleidung und würden den ganzen langen Weg zu Fuß zurücklegen. Viele von ihnen hatten sich die Muschel, das allbekannte Zeichen des Pilgers, umgehängt, und die einzige Waffe, die sie besaßen, war ihr Pilgerstab.
    Überall herrschten gespannte Unruhe, Vorfreude und Aufbruchstimmung. Man wartete ungeduldig auf die Ankunft des Landgrafen.
    Primus hielt sich an die Eisenacher Gruppe, die schon vor zwei Tagen in Schmalkalden angekommen war. Er trug die Schuhe, die ihm Gisa geschenkt hatte. Sie waren sein kostbarster Besitz, abgesehen von einer Trinkflasche, seinem Messer und einer fadenscheinigen Filzdecke. Der Abschied war ihm schwerer gefallen, als er geglaubt hatte; fast den ganzen Weg bis Ruhla hatte er mit den Tränen gekämpft. Und dann plötzlich hatte er eine feuchte, kalte Nase an seiner Hand gespürt: Ratz. Der treue Hund war ihm die ganze Strecke gefolgt und sprang nun japsend vor Freude an ihm hoch. Durch nichts war er zu bewegen, wieder nach Hause zu laufen, und so hatte Primus schließlich seufzend nachgegeben. Wenigstens war er jetzt nicht mehr so ganz allein, und die Liebe des Tieres tat ihm gut.
    Er kannte fast jeden von den Eisenachern. Den triefäugigen Metzger, den stets zu Späßen aufgelegten Sohn des Schultheißen. Die beiden leichtlebigen Brüder des Weißgerbers, die ihren Schulden zu entkommen suchten. Den Nagelschmied, der bloß mitging, weil er es bei seiner scharfzüngigen Frau nicht mehr aushielt, und den frommen Seifensieder aus der Badgasse. Den jungen Stadtknecht, der auf Abenteuer aus war, und den armen Handschuhmacher, den noch nie jemand hatte lachen sehen und der irgendeine Missetat sühnen wollte, die er früher begangen hatte und niemandem verriet. Den vom Glauben beseelten Neffen des Stadtfischers, der zutiefst davon überzeugt war, dass ohne sein Zutun Jerusalem nie befreit würde. Den buckligen Gesellen des Silberschmieds, der vor einer unglücklichen Liebe zu seiner Meisterstochter floh. Lauter brave Bürgersleute, die Heim und Herd verlassen hatten, um das Heilige Grab zu erreichen. Und dann waren da natürlich noch die armen Schlucker wie Primus, die nichts zu verlieren hatten. Tagediebe, Hungerleider und Herumtreiber, so wie er. Das waren die meisten. Gesindel eben. Und der ungekrönte König dieses Gesindels war Ortwin.
    »Warum kommst du überhaupt mit?«, hatte Primus ihn gefragt. »Du und deine Leute, ihr seid doch nicht wie die anderen hier.«
    Ortwin hatte mit den Schultern gezuckt. »Hier ist es ebenso gut wie anderswo! Außerdem muss es einen Mordsspaß machen, zur Abwechslung mal ein paar Heiden in die Hölle zu schicken. Und du?«
    Primus schluckte. »Für Michel.«
    Ortwin schlug ihm kräftig auf die Schulter. »Du bist zu gut für diese Welt, Mann.«
     
    Am Vorabend des Johannistages endlich traf der Landgraf mit großem Gefolge vor Schmalkalden ein. Herrlich war er anzusehen auf seinem stolzen Schimmel, sein weißer Mantel bauschte sich im Wind. Ihm

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