Die Tore des Himmels
ganze Gemeinde fiel auf die Knie. Der Mann legte den Mantel ab. Zuerst stand er noch im Schatten, aber dann tat er einen Schritt nach vorn und hob segnend die Hände. Auf seiner rechten Wange leuchtete im Licht der Kerzen blutrot die alte Brandwunde. Es war Wido!
Mir begannen die Knie zu zittern. Aber ich zwang mich abzuwarten. Noch hatte ich Heinrich nicht erkannt, aber es war auch schwierig, manche Gestalten standen einfach hinter anderen verborgen, und mein Sichtfeld war beschränkt. Schließlich zupfte Primus mich am Ärmel. Ich gab es auf und ließ mich von ihm fortziehen.
»Er ist nicht dabei«, flüsterte ich, als wir weit genug weg waren.
»Dein Landgrafenbruder?«
»Ja. Zumindest konnte ich ihn nicht erkennen.«
»Pech.«
»Und du bist sicher, dass wirklich er es ist, der immer hierherkommt?«
Jetzt wurde Primus selber unsicher. Er hob die Schultern. »Na ja, eigentlich schon. Außerdem hat er von allen stets die feinsten Kleider an, und er bezahlt mich meistens. Und er ist der Einzige, der Schmuck trägt.«
»Schmuck?«
Primus nickte. »Er hat manchmal eine Kette mit irgendeinem Anhänger dran. Oder sein Mantel wird von einer Anstecknadel zugehalten, die ist bestimmt ganz schön was wert. Und er trägt einen Ring.«
Ich zuckte zusammen. »Wie sieht der aus?«
»Na, wie ein Ring eben. Ziemlich breit. So genau hab ich nicht aufgepasst. Auf jeden Fall hatte er keinen Stein oder so was. Glaub ich. Aber es steht was drauf geschrieben.«
O Gott. Mir war eiskalt. »Was?«, fragte ich.
Er grinste verlegen. »Weiß nicht. Ich kann doch nicht lesen.«
Ich nickte. »Ach so, ja.«
»Hör zu«, sagte Primus leise. »Ich muss wieder zurück, damit ich am Schluss mein Geld kriege.«
»Geh nur«, flüsterte ich. »Ich finde schon allein zum Hellgrevenhof.«
Ich verbrachte eine schlaflose Nacht in der Herberge am Georgentor, bevor ich mich am Morgen zurück in die Burg stahl. Dank Isentrud hatte niemand mein Fehlen bemerkt. Und obwohl ich hundsteinmüde war, führte mich kurz vor der Frühsuppe mein erster Weg in Heinrichs Zimmer, das er zusammen mit seinem Leibdiener Albrecht im Rittertrakt bewohnte. Nachdem die Küchenglocke zum Morgenmahl geläutet hatte, würden die beiden zum Essen in der Hofstube sein. Ich war also ungestört.
Die Kammer war nicht verschlossen. Auf der linken Seite stand eine recht einfache Bettstatt unter einem gestreiften Leinenhimmel, davor stand ein unbenutzter Nachtscherben. Achtlos übers Kissen geworfen lag ein wollenes Paar Beinlinge. Das musste Albrechts Bett sein. Die zweite Bettstatt war viel prächtiger, hatte gedrechselte Pfosten und einen samtenen Vorhang zum Zuziehen. Eine kleine Truhe, die man als Nachttischchen benutzen konnte, stand zwischen Bett und Fenster. Ansonsten befanden sich in dem Raum nur noch ein Schemel und ein großer Kastenschrank, wie er für Wäsche und Kleider benutzt wurde.
Ich hob den Deckel der kleinen Truhe am Fenster. Sie war in mehrere Fächer unterteilt. In fliegender Hast untersuchte ich deren Inhalt. Ich fand einen aufgerollten alten Ledergürtel, ein Rasiermesser, einen verschrumpelten Apfel und ein zusammengeknülltes Schnupftuch. Im zweiten Fach lagen ein Paar Jagdhandschuhe, ein beinernes Trinkhorn, Ärmel aus grüner Seide, eine feinwollene Bruoche und zwei Sporen aus Messing. Das dritte Fach enthielt ein Kästchen mit Heinrichs Siegel, einem Brocken Wachs und dem Siegelring, einen silbernen Zahnstocher an einem Kettchen und einen kleinen Lederbeutel.
Mit zittrigen Fingern griff ich nach dem Beutel. Er war ganz leicht, viel konnte nicht darin sein. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich löste das Band, zog den Beutel auf, und heraus rollte – der Ring! Obwohl ich es schon geahnt hatte, erschrak ich so sehr, dass ich ihn fallen ließ. Er kullerte in weitem Bogen über die Steinfliesen, drehte sich ein, kreiselte erst schneller und dann immer langsamer und blieb schließlich still liegen. Mit spitzen Fingern hob ich ihn auf. Buchstaben flammten mir entgegen, in einer merkwürdigen Schrift, die ich nicht lesen konnte.
Ich schloss die Augen. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Heinrich Raspe betete den Teufel an. Und ich hatte diesen Mann geliebt, hatte ihn heiraten wollen. Unter meinen Füßen schwankte der Boden.
Doch ich musste mich zusammenreißen. Mit fieberhafter Eile steckte ich den Ring wieder zurück in den Beutel und legte ihn in die Truhe. Ich schloss den Deckel und wollte die Stube verlassen. Schon war ich durch die
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