Die Tore des Himmels
Stimme: »Jungfer Gislind! Jungfer Gislind!« Überrascht nahm sie den Fuß aus dem Steigbügel und drehte sich um. »Primus!«
Er winkte und lief zu ihr.
»Was tust du denn hier?«, fragte sie. »Du willst doch nicht etwa mit ins Heilige Land?«
»Aber doch!« Er warf sich in die Brust. »Schließlich bin ich fast fünfzehn! Und beim Kampf gegen die Ungläubigen brauchen sie jeden Mann!«
Gisa lachte und deutete auf Ratz, der brav neben seinem jungen Herrn hockte. »Und jeden Hund, hm?«
»Auch die Tiere sind Geschöpfe Gottes, sagt der Pfarrer. Es steht nirgends geschrieben, dass Hunde beim Kreuzzug nicht erlaubt sind. Ich hab gefragt.«
In diesem Augenblick lief der Dunkelhaarige mit der Narbe an Primus vorbei und nickte ihm zu. Und da wusste Gisa wieder, woher sie ihn kannte. Er gehörte zu den Ketzern. Er war vor der nächtlichen Messe an ihnen vorbeigegangen und hatte sein Gesicht dabei nicht unter einer Kapuze verborgen gehalten. »Wer war das?«, fragte sie Primus.
»Der? Das ist Ortwin, der schlimmste Galgenvogel von ganz Eisenach. Was der auf dem Kerbholz hat, reicht für zwei Räuberleben.«
Gisa runzelte nachdenklich die Stirn. Was hatte Heinrich Raspe von diesem Mann gewollt? »Weißt du, was diesen Ortwin mit dem Bruder des Landgrafen verbindet?«
»Keine Ahnung, außer dass sie beide zu den heimlichen Treffen kommen.«
»Heinrich hat ihm grade Geld gegeben.«
Primus überlegte. »Bestimmt geht’s da um Ketzersachen. Wir kommen auf unserem Weg doch durch viele Städte. Vielleicht soll er das Geld irgendwohin bringen, zu einer anderen Gemeinde oder zu einem ihrer Priester oder so was …«
Gisa nickte. »Vermutlich hast du recht.«
Ein Fanfarenstoß ertönte.
Primus kratzte sich verlegen am Kinn. »Jungfer Gislind?«
»Ja?« Sie lächelte.
»Könntest du mal ab und zu nach meinen Leuten sehen? Ich meine meine Mutter und die Geschwister. Ob es ihnen gutgeht? Sie wohnen im alten Schweinestall vom ›Wilden Mann‹ in der Hengersgasse.«
Gisa nickte. »Natürlich. Ich kümmere mich darum. Mach dir keine Sorgen.«
Ein zweiter Fanfarenstoß. Das letzte Signal zum Aufbruch.
»Ich muss zu meiner Gruppe.« Primus schnippte aufgeregt nach dem Hund.
»Ich wünsch dir viel Glück, Primus, und Gottes Segen. Komm gesund wieder heim.« Gisa reichte ihrem jungen Freund die Hand. Dann kraulte sie Ratz hinter den Ohren. »Pass gut auf deinen Herrn auf, ja?«
Und schon waren die beiden in der Menge verschwunden. Gisa stieg auf und reihte sich hinter Elisabeth unter den Hofdamen ein. Der Landgraf gab das Zeichen zum Abmarsch.
Die fürstliche Familie ritt noch bis zur Grenze nach Franken mit. Dann galt es, endgültig Abschied zu nehmen. Ludwig hielt eine letzte, kurze Rast. Er küsste seine beiden Kinder, umarmte erst seinen jüngsten Bruder Konrad, dann Heinrich Raspe. »Ich habe dich zum Vormund für Hermann und Sophie eingesetzt«, sagte er. »Hüte sie, als ob sie deine eigenen Kinder wären. Und beschütze auch meine Elisabeth. Ich verlass mich auf dich, Bruder.«
Heinrich hob die Schwurhand. »Vertrau auf mich, Ludwig. Den Deinen wird kein Leids geschehen, solange ich atme. Und Thüringen auch nicht. Das schwöre ich.«
Sophia kam dazu und umfing ihren zweitältesten Sohn voll Rührung. »Ich bete jeden Tag zu Gott, dass ich noch lange genug leben darf, um dich wieder in die Arme zu schließen«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
Ludwig beugte das Knie. »Mutter, gib mir deinen Segen auf meinem Weg.«
Sie legte ihm die zitternde Hand auf den Kopf. »Geh mit Gott, mein Sohn. Meine Fürbitten werden dich begleiten.«
Und jetzt kam das Schwerste. Ludwig schloss Elisabeth in seine Arme. Sie schluchzte hemmungslos. »Ich komm doch wieder, Schwesterchen«, sagte er ein ums andere Mal. Sie streichelte sein Gesicht, küsste seine Hände, klammerte sich an ihn. »Lass mich noch bis Nürnberg mitreisen«, bat sie.
»Es hat doch keinen Sinn, Liebes. Einmal muss ja doch geschieden sein. Bleib und schenk mir einen gesunden Sohn. Sende mir bald Nachricht, und auch ich will dir in wichtigen Dingen Kunde geben. Sieh her.« Er zog seinen neuen Siegelring ab, den er eigens für die Kreuzfahrt hatte anfertigen lassen, einen massiven Goldreif mit einem großen Saphir, in den das Lamm Gottes eingeritzt war. »Wenn du ein Schreiben mit diesem Siegel bekommst, kannst du sicher sein, dass es eine echte Botschaft von mir ist. Und so lange dir niemand den Ring selber bringt, weißt du, dass ich am Leben
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