Die Tore des Himmels
ihr Haare und Nägel ab. Danach stritten sie sich um Finger und Zehen, am Ende kämpften sie verzweifelt um Nase, Ohren und Brustwarzen. Keiner wollte ohne ein Teilchen von ihr gehen, es war wie ein furchtbarer Rausch. So grausam dies klingen mag, es war doch Zeichen ihrer Liebe und ihrer Verehrung. Jeder wollte etwas von ihr behalten. Und Konrad duldete es. Schließlich war dies der erste Schritt zur Heiligkeit.
Zwei Tage lang holten sich also die Menschen noch von Elisabeth, was sie haben wollten, dann ließ Konrad eine Totenmesse in der Marburger Pfarrkirche lesen. Elisabeth wurde in der Hospitalkapelle beigesetzt, an der Stelle, wo man sie aufgebahrt hatte. Man bedeckte das Grab mit einer einfachen Steinplatte.
Und in dem Augenblick, als die Platte das offene Grab schloss, da kam mir ein entsetzlicher Gedanke. Heinrich Raspe! Unsere Abmachung! Ich hatte ihm geschworen, sein Geheimnis zu bewahren, um Elisabeths Willen. Aber nun war sie tot. Er konnte sich meiner nicht mehr sicher sein. Die Angst sprang mich an wie ein Tier, schnürte mir die Kehle zu, packte mich an und schüttelte mich. In diesem Augenblick wurde mir klar: Elisabeth war tot, aber ich, ich wollte weiterleben. Wie von Furien gejagt rannte ich aus der Kapelle, es war mir ganz gleich, dass alle Köpfe sich nach mir drehten.
Atemlos, keuchend, erreichte ich meine Kammer und riss die Tür auf. Ich ging zum Tisch und ließ mich auf den einzigen Hocker sinken, den ich besaß. Und da sah ich sie. Die Katze. Sie gehörte der Hausfrau. Zufrieden blinzelnd hockte sie auf dem Fenstersims und maunzte mich an. Die Kälte legte sich wie ein Stein auf meine Brust. Ich hatte die Katze aus der Stube gescheucht, bevor ich gegangen war. Jetzt war sie wieder da. Das konnte nur eines bedeuten: Jemand war hier gewesen. Er war hereingekommen, und die Katze hatte sich lautlos mit eingeschlichen, so wie sie es immer tat. Und jetzt bemerkte ich auch die Schmutzspuren auf den Holzdielen. Die waren nicht von mir!
Ein Zittern überfiel mich. Ich musste hier weg, bevor sie wiederkamen. In Windeseile raffte ich meine wichtigsten Habseligkeiten zusammen, schnürte ein Bündel und verließ das Haus. Ich nahm mir nicht einmal mehr die Zeit, die Türe zu schließen.
Vorsichtig sah ich mich um. In der Gasse war nicht mehr viel los, schließlich war gleich Sonnenuntergang. Nichts kam mir verdächtig vor, also lief ich los. Bis zum Tor war es nicht weit, der Wächter war gerade dabei zuzusperren. Unter Murren und Brummen machte er die Schlupfpforte noch einmal für mich auf und sah mir kopfschüttelnd nach, wie ich davonstürmte.
Erst als das Hospital ein gutes Stück hinter mir lag, blieb ich stehen. Mein Gott, wo wollte ich denn überhaupt hin? Wo konnte ich sicher sein? Wer würde mir helfen?
Wehrda, schoss es mir durch den Kopf. Die Leute, bei denen wir vor drei Jahren ein paar Wochen untergekommen waren. Die würden mir zumindest ein Dach über dem Kopf bieten. Ich warf mir mein Bündel wieder über den Rücken und marschierte weiter, während es immer dunkler wurde.
Ich hörte ihn zuerst am Wegkreuz. Meine Schuhe waren aus weichem Ziegenleder, sie machten auf dem gut festgestampften Weg kaum Geräusche. Aber hinter mir, da knackte es. Erst hoffte ich, es sei nur ein Tier gewesen. Aber dann war da wieder dieses Knacken. So, als ob ein schwerer Stiefel auf einen Zweig treten würde. Und ein drittes Mal, aber da rannte ich schon. Ich warf mein Bündel weg und schlug einen Haken. Wenn ich es bis zum Wald schaffte, würde er mich in der Finsternis vielleicht nicht mehr finden.
Ich lief mir die Lunge aus dem Leib, fiel hin, aber vor lauter Angst spürte ich keinen Schmerz. Ich rappelte mich hoch, und während ich auf die dunklen Schatten der Bäume zustolperte, hörte ich meinen Verfolger keuchen. Mit letzter Kraft erreichte ich den Wald, flüchtete in die schützende Schwärze. Ich konnte nicht mehr. Ich versteckte mich hinter einen dicken Stamm. Alles, was ich noch tun konnte, war Anschmiegen, Atem anhalten und beten!
Mein Herz klopfte so laut, dass ich glaubte, es müsse mich verraten. Jeder Muskel an mir war zum Bersten gespannt. Dann hörte ich sie kommen, es waren mindestens zwei. Einer ging an meinem Baum vorbei. Wo war der andere? Ich konnte nur noch beten. Vater unser im Himmel dein Wille geschehe wie im Himmel so auf … Plötzlich packten mich Hände, zerrten an mir. Eine Männerstimme knurrte: »Hab ich dich, Weibstück!«
Ich riss mich los, schrie,
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