Die Tore des Himmels
den Kopf und ging langsam, ganz langsam an Johannes vorbei in den Spitalhof.
Drinnen herrschte bedrücktes Schweigen. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte, wenn Elisabeth starb. Nur hie und da stöhnte ein Kranker, schrie ein Kind. Ich nahm Michel auf den Arm und ging auf das Wohnhaus zu. Niemand war zu sehen. Schon streckte ich die Hand aus, als die Tür von innen geöffnet wurde und Konrad von Marburg herausstürmte. Mein Herz setzte einen Augenblick aus, aber er sah mich gar nicht an, sondern ging mit großen Schritten an mir vorbei auf den Hospitalbau zu. Ich stieß den Atem aus, den ich angehalten hatte, und trat ins Haus.
Eine der neuen Mägde, Irmengard, stand am Herdfeuer und stocherte in der Glut. »Was willst du denn hier, Miriam?«, fragte sie.
Ich schob den Kopfschleier nach hinten. »Ich bin’s, Irmengard. Wie geht’s ihr?«
Die Magd machte große Augen. »Du weißt genau, dass du nicht hier sein darfst! Ich muss es Meister Konrad sagen!«
»Irmengard«, flehte ich, »ich bin mit ihr aufgewachsen. Lass mich wenigstens von ihr Abschied nehmen. Das kannst du mir nicht verweigern!«
Da kam aus der Nebenstube eine schwache Stimme. »Gisa? Gisa, bist du’s?«
Ich sah Irmengard an. »Geh«, sagte sie nur.
Sie lag auf einer Strohschicht in der Nische beim Kachelofen – die Bequemlichkeit des Betts, das im Zimmer stand, hatte sie verweigert. Man hatte dicke Polster unter ihren Rücken geschoben, damit sie erhöht liegen und besser atmen konnte. Unter der Decke zeichneten sich die Konturen ihres zum Skelett abgemagerten Körpers ab. Sie schien geschrumpft zu sein.
Ein Blick genügte mir, und ich wusste, dass all meine Hoffnung umsonst gewesen war. In den letzten Jahren hatte ich so viele in den Tod begleitet. In ihren Gesichtern war stets etwas gewesen, was ich ganz für mich »den Engel« genannt hatte. Ein Ausdruck des Wissens um die Dinge der Welt, des Loslassens, des Gehenwollens. Ich kann es nicht so recht beschreiben. Ihre Gesichter hatten gesagt: Eigentlich bin ich schon fort, nur mein Körper existiert noch für kurze Zeit. Und jetzt sah ich ihn in Elisabeths Miene, den »Engel«. Er lächelte mich an.
»Gisa«, flüsterte sie, »ich hatte schon Angst, du kommst nicht mehr. Viel Zeit bleibt mir nicht.«
Ich kniete mich neben sie und nahm ihre Hand, sie war knochig und wächsern. »Jetzt bin ich ja hier, Liebes. Hast du Schmerzen?«
Sie schüttelte den Kopf und hustete schwach. »Gott schenkt mir einen sanften Tod.«
Ich wollte nicht weinen, aber die Tränen stiegen mir in die Augen. »Schau«, sagte ich mit zittriger Stimme und schob Michel vor, »schau, wen ich dir mitgebracht habe!«
Sie drehte mühsam den Kopf. »Mein Bübchen! Komm zu mir, du Süßer!« Michel krabbelte auf ihren Schoß und legte seine dünnen Ärmchen um ihren Hals. Während seiner Krankheit war sie zu seiner zweiten Mutter geworden. »Lisabeth, bist du krank?«, fragte er. »Ja«, erwiderte sie. »Dann bleib ich bei dir, bis du wieder gesund bist«, versprach Michel treuherzig und kuschelte sich an sie.
Ich hob mit der einen Hand ihren Kopf an und gab ihr mit der anderen Hand aus einem Becher zu trinken, der neben ihrem Lager stand. Sie schluckte folgsam.
»Du bleibst doch auch bei mir?«, fragte sie dann und sah mich bittend an mit ihren großen schwarzen Augen, die jetzt so stumpf und tief in den Höhlen lagen. Ich erinnerte mich, wie diese Augen einst blitzen und leuchten konnten, als sie noch ein Kind war, und schwärzeste Trauer schlug über mir zusammen wie eine Welle.
Sie wartete gar nicht erst auf meine Antwort, sondern drehte mit einem erleichterten Seufzer den Kopf zur Wand und schlief ein. Um ihre bleichen Lippen spielte ein leises Lächeln. Und ich wusste, wenn Konrad versuchen würde, mich wegzuholen, würde ich mich mit Zähnen und Krallen wehren.
Ich drehte mich um und sah Irmengard in der Tür stehen. »Ich habe gehört, was sie gesagt hat«, sagte sie leise, um Elisabeth nicht zu wecken. »Sei unbesorgt. Ich werde dafür sorgen, dass du bis zum Schluss bleiben kannst.«
Und sie hielt ihr Versprechen. Jedes Mal, wenn sie Konrad aufs Haus zukommen sah, warnte sie mich und ich kletterte mit Michel aus dem rückwärtigen Fenster. Der Prediger blieb nie lange, manchmal sprachen sie gemeinsam ein Gebet, manchmal redeten sie über den Tod und das Jenseits. »Meister«, hörte ich sie einmal fragen, »glaubt Ihr, dass mein größter Wunsch in Erfüllung gehen wird?«
»Ich werde
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