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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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rannte blindlings davon. Jemand sprang mich von hinten an, erwischte mich an den Beinen; ich fiel der Länge nach hin. Mein Kopf schlug auf einen Stein oder eine Wurzel. Jetzt stirbst du, dachte ich. Alles wurde dunkel.

Primus
    J etzt ist sie also da, wo sie schon so lang hinwollte. Wenn die Pfaffen recht haben mit dem, was sie uns erzählen. Eine merkwürdige Frau war sie schon, Elisabeth, meine ich. Wirklich verstanden hat sie wohl keiner. Aber eins muss man ihr lassen: Ein guter Mensch war sie, der beste! Ohne sie würde Michel nicht mehr leben, das weiß ich so gewiss wie die Sonne jeden Morgen aufgeht. Und wenn es einer verdient, verehrt und geliebt zu werden, dann sie.
    Als man sie in das ausgehobene Grab gelegt hat, vor dem Altar in der Kapelle, hab ich geweint wie ein Kind. Auch Miriam konnte die Tränen nicht zurückhalten, obwohl sie sie doch erst am Schluss gekannt hat. Und dann, als sie die Grabplatte über das längliche Loch legten, geschah etwas, das wohl keiner, der dabei war, je vergessen wird: Ein Lahmer schleppte sich heran, auf hölzernen Handständern, die Unterschenkel auf ein rollendes Brett geschnallt. Mühevoll kroch er herbei, die Leute bildeten eine Gasse für ihn wie das Meer, das sich für Moses und die Kinder Israels geteilt hat. Als der Krüppel die Grabplatte erreicht hatte, warf er seine Handschemel zur Seite und legte sich mit ausgebreiteten Armen über den Schieferstein. »Sancta Elisabeth, heile mich!«, rief er immer wieder. Und dann, ich schwöre es, erhob er sich, löste die Seile, die seine Beine auf dem Rollbrett hielten, und wankte von dannen!
    Danach brach die Hölle los. Konrad von Marburg hob die Arme und sagte etwas, um die Menge zu beruhigen, aber er wurde einfach überrannt. Und dann kreischte eine Frau, laut und durchdringend: »Er kann sehen! Er kann sehen!« Sie hatte kurz vorher neben der Steinplatte ein wenig Erde aufgenommen und auf die Augen ihres kleinen Jungen gelegt. »Blind geboren ist er! O Sancta Elisabeth, Mutter aller Kinder, wir danken dir!«
    Es waren Wunder, ganz gleich, was andere sagen werden. Es waren Wunder!
     
    Weil ich Jungfer Gisa in dem ganzen Durcheinander nach der Grablege nicht mehr getroffen hatte, zog es mich nach dem Nachtessen noch zu ihr. Ihre beiden kleinen Fenster waren schon dunkel, drinnen brannte kein Licht mehr. Ob sie schon schlafen gegangen war? Ich stieg die Außentreppe zu ihrer Stube hinauf und stutzte: Die Tür stand offen. Drinnen sah ich im Mondlicht das Talglämpchen auf dem Tisch stehen, also ging ich hinein und schlug erst mal Feuer mit meinem Schlagring und dem Zunderschwamm. Es machte mich ganz unruhig, dass Gisa nach Einbruch der Dunkelheit noch nicht zu Hause war, das sah ihr gar nicht ähnlich. Misstrauisch schaute ich mich um. Der kleine Hocker, auf dem sie immer saß, lag auf dem Boden. Irgendetwas stimmte da nicht, das sagte mir mein Bauch, und der hat meistens recht. Ich öffnete die rissige alte Truhe, in der sie ihre Sachen aufbewahrte – das mausfarbene Umschlagtuch fehlte und auch der wollene Kittel. Alles andere war noch da. Das Stück Schinkenspeck, das gestern noch am Haken beim Herd hing, fehlte auch. Das hatte sie eigentlich bis Weihnachten aufheben wollen. Und dann entdeckte ich auf dem Boden die Spuren von schmutzigen Männerstiefeln. Was hatte das verdammt nochmal zu bedeuten?
    Unverrichteter Dinge tappte ich heim und machte mir die ganze Nacht lang Sorgen. Gleich in der Frühe lief ich wieder hin – Gisas Stube war immer noch leer, und in dem Bett hatte auch niemand geschlafen. Da war mir endgültig klar: Sie ist in Gefahr, und zwar in schrecklicher! Mir war nämlich in der Nacht eingefallen, was sie mir schon vor einiger Zeit erzählt hatte: Heinrich Raspe weiß, dass sie sein Geheimnis kennt. »Aber solange Elisabeth lebt, kann er mir nichts anhaben.« Das waren ihre Worte gewesen.
    Und nun lebt Elisabeth nicht mehr.
    Ich hab plötzlich eine Scheißangst um Gisa.
    Was mach ich nur?

Gisa
    M ir war übel, zum Sterben übel. In meinem Kopf bohrte und hämmerte es. Ich versuchte, tief zu atmen, ein und aus, ein und aus. Meine Atemzüge waren das einzige, leise Geräusch an einem Ort unendlicher Stille. Nein, das stimmt nicht. Da war noch mein Herzschlag, ich konnte ihn hören, da-damm, da-damm, da-damm. Und spüren. Also lebte ich noch. Ich bewegte meine Hände und Füße, sie waren noch da. Aber wo war ich? Was war mit mir geschehen?
    Undeutliche Erinnerungsfetzen tauchten auf, huschten durch

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