Die Tore des Himmels
auf den Tod erkrankt! Lass ihn sterben, Herr, hatte ich gefleht, und rette Elisabeth! Aber der Allmächtige hat wohl andere Pläne. Es steht mir nicht zu zu urteilen. Kein Christenmensch darf die göttliche Vorsehung in Frage stellen.
Aber als ich erfuhr, dass Elisabeth krank war und Konrad über den Berg, da packte mich eine solch unendliche Wut, solch ein hilfloser Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt, dass ich Gott innerlich anschrie: »Du bist wie Konrad! Du weidest dich an der Not derer, die am meisten an dich glauben!«
Gleich bei Sonnenaufgang am nächsten Morgen eilte ich mit Miriam zum Hospital. Wie immer stand der einäugige Johannes am Weidentor, um nötigenfalls Leute abzuweisen. Miriam ließ er ohne Einwände in den Hof, mich packte er am Arm. »Du nicht!«
»Johannes, ich bitte dich in Gottes Namen, erbarm dich und lass mich hinein! Elisabeth braucht mich jetzt!«
Er grinste nur und spuckte den Grashalm aus, auf dem er herumgekaut hatte.
»Sag wenigstens, wie es ihr geht!«
»Verschwinde«, zischte er.
Ich hätte heulen können vor Wut, Enttäuschung und Hilflosigkeit, aber ich gönnte ihm nicht, meine Verzweiflung zu sehen. Also wandte ich mich ab und ging unverrichteter Dinge wieder zurück in die Stadt.
Die nächsten zehn Tage waren eine Qual. Jeden Abend kamen Primus und Miriam und erzählten, wie Elisabeth schwächer und schwächer wurde. Inzwischen hatte man sie in den Nebenraum des Wohnhauses verlegt – bis dahin hatte sie darauf bestanden, weiterhin in der Kapelle auf dem nackten Boden zu schlafen. In der Wohnstube gab es wenigstens eine Bettstatt und einen Kachelofen, der ein bisschen Wärme spendete. Miriam berichtete, dass viele Menschen, die von Elisabeths Zustand gehört hatten, ins Spital pilgerten, um sie zu sehen. Die Äbtissin Lukardis von den Altenburger Schwestern war gekommen, um ihr ein Püppchen zu schenken, das die kleine Gertrud gebastelt hatte. Ehemalige Kranke brachten ihr, was sie entbehren konnten, ein paar Eier, ein Töpfchen Butter, ein Huhn. Die Schar der Besucher nahm kein Ende, und Elisabeth, so schwach sie auch war, bestand darauf, jeden zu empfangen.
Und dann, zwei Tage nach Martini, berichtete Miriam weinend, Elisabeth habe die Beichte abgelegt und von Konrad die Letzte Ölung erhalten. Ab jetzt dürfe niemand mehr zu ihr. »Sie liegt im Sterben«, sagte Primus.
Ich war verzweifelt. Ich musste zu ihr! Sie war doch immer der wichtigste Mensch in meinem Leben gewesen, hatte mir alles ersetzt, Schwester, Freundin, Kind und Mutter. Ich konnte sie doch nicht gehen lassen ohne Abschied! Ich konnte sie ihren letzten Gang doch nicht alleine tun lassen! »Primus, Miriam, ihr müsst mir helfen! Ich muss einfach ins Hospital!«, flehte ich.
Primus umarmte mich. »Wir finden einen Weg.«
Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, zog ich Miriams Kleider an. Ich steckte mein blondes Haar mit langen beinernen Nadeln auf und warf Miriams blaugestreiften Kopfschleier über. Vorher hatte sie sich eine lange schwarze Haarsträhne abgeschnitten, die wir mit ein paar Stichen seitlich am Schleier befestigten und heraushängen ließen. Dann hängte ich mir Miriams Weidenkorb an den Arm und nahm den kleinen Michel an die Hand. So machten wir uns zusammen mit Primus auf den Weg.
Vor dem Spitaleingang standen viele Menschen, die aufgeregt redeten und gestikulierten. Man hatte sie nicht mehr zu Elisabeth vorgelassen. Eine Frau schluchzte, Kinder brüllten, es war ein großes Durcheinander. Wie immer verstellte Johannes mit seinem Eichenknüppel das Weidentor und wies ungerührt alle Besucher ab. Bei seinem Anblick begann ich zu schwitzen, ein kleines Rinnsal lief kitzelnd mein Rückgrat hinab. Aber Primus nahm mich fest an der Hand und stapfte entschlossen auf den Einäugigen zu; Michel trippelte brav mit.
Johannes verhandelte gerade mit einem vornehm gekleideten Bürger, der einen Krug Würzwein als Geschenk zu Elisabeth bringen wollte. Der Mann bestand auf Einlass, er war sichtlich wütend und wollte sich nicht so einfach abspeisen lassen. Das war die Gelegenheit. Wir gingen betont ruhig zum Tor und stellten uns so hin, dass Johannes mich nur von hinten sah. Er warf einen kurzen Blick herüber, erkannte Primus und den Kleinen und wandte sich wieder dem aufgebrachten Besucher zu. Primus küsste mich noch zum Abschied auf die Wange und sagte: »Bis heute Abend, es kann ein bisschen später werden, sorg dich nicht.«
Dann nahm ich all meinen Mut zusammen. Ich senkte
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