Die Tore des Himmels
Fäuste.
»Wenn da drunten im Loch überhaupt Gisa sitzt«, dämpfte Raimund seine Erwartungen. »Und wenn ja, dann wissen wir nicht, in welchem Zustand sie ist. Es wird nicht so leicht werden, mein Junge. Aber es muss einfach gutgehen, mit Gottes Hilfe.«
Raimunds Zuversicht hätte sich in noch engeren Grenzen gehalten, hätte er gewusst, dass der Torwart kurz nach ihnen einen weiteren Besucher eingelassen hatte. Auf die Frage nach Namen und Begehr hatte der ganz in Schwarz gekleidete Mann ihm einen Ring mit dem Ludowingersiegel unter die Nase gehalten und geantwortet: »Lass mich durch, Bürschchen, der Landgraf schickt mich.«
»Euer Begehr?«, hatte der Torwart störrisch beharrt.
Der Schwarze beugte sich von seinem Pferd herunter, bis sein Gesicht dicht an dem des jungen Mannes war. Dann bleckte er die Zähne und raunte: »Ich bringe eine wichtige Nachricht aus Thüringen, Kleiner.«
Der junge Torwart prallte zurück und ließ den Mann ungehindert einreiten.
Der folgende Tag verging wie im Flug mit den Vorbereitungen. Mittags beobachteten sie, wie zwei Wachleute mit Brot und einem Wasserkrug im Eckturm verschwanden und mit leeren Händen wieder herauskamen. Primus machte sich später an die beiden heran und fing ein belangloses Gespräch an. »Wer hockt denn da drunten im Loch?«, fragte er irgendwann ganz beiläufig.
»Keine Ahnung«, erwiderte der Ältere der beiden. »Aber der Stimme nach ist es ein Weib, das ist mal sicher.«
Primus stürmte in die Schlafkammer. »Es ist Gisa!«, rief er triumphierend.
Raimund ließ sich auf den Bettkasten sinken. »Danke, Gott«, flüsterte er.
Als der Mond schon hoch am wolkenlosen Nachthimmel stand, schlichen sich Raimund und Primus aus ihrer Kammer. Draußen war es bitterkalt, silberglänzender Reif überzog die Dächer der Burggebäude. Von der niedrigen Mauer des Burghofs aus konnte man auf Marburg blicken. Das Städtchen schlief; die Häuser und Gassen in milchigweißes Mondlicht getaucht. Der Turm der Marienkirche ragte wie ein mahnender schwarzer Finger hinauf in die Nacht. Alles war still, nur die Stiefelabsätze des Wächters klackten vernehmlich auf den Holzbohlen des Wehrgangs. Raimund und Primus huschten an der Wand des Palas entlang über den Hof und kauerten sich in eine Nische in der Nähe des Tores. Dort warteten sie voller Ungeduld, bis der Wächter seinen Rundgang beendet und Stellung im Ausguck bezogen hatte. Nach schier endloser Zeit war ein feines, regelmäßiges Schnarchen zu vernehmen.
»Los!«, zischte Raimund.
Auf Zehenspitzen stiegen sie die Treppe zum Wehrgang hoch. Der Wächter saß in seinem Ausguck, die Beine weit von sich gestreckt, den Rücken gegen die Mauer gelehnt. Primus bedeutete Raimund zurückzubleiben. Dann schlich er an der Wand entlang zu dem Schlafenden hin. Was er dort sah, hätte ihn fast aufjubeln lassen: Der Schlüsselring hing nicht am Gürtel des Schnarchers, sondern lag auf dem steinernen Sims der Schießscharte. Vorsichtig langte Primus an dem Schläfer vorbei, schnappte sich lautlos die Schlüssel und glitt geschmeidig wieder zu Raimund zurück.
Wenige Augenblicke später waren sie an der Turmpforte angelangt. Der dritte Schlüssel sperrte, und dann waren sie im Inneren des Bergfrieds.
Mit dem mitgebrachten Metallring, dem Zunder und dem Feuerstein schlugen sie Funken und entzündeten eine der Kerzen, die sie einstecken hatten. Raimund leuchtete, während sie in das Erdgeschoss hinunterstiegen.
»Hier ist es!«, flüsterte er und deutete auf die Falltür in der Mitte des Raumes, die mit einem großen Stein beschwert war. Genau über der Luke hing eine große Winde an der Decke; am Ende des aufgewickelten Seiles baumelte in Hüfthöhe über dem Loch ein massiver eiserner Haken.
Raimund stellte die Kerze auf den Boden, hob den Stein zur Seite und zog am Griff der Falltür; mit leisem Knarzen klappte sie auf. »Gisa?«, rief er halblaut ins Dunkel. »Bist du da drunten?«
Er horchte angespannt. Nichts.
Und dann antwortete eine schwache Stimme: »Wer ist da?«
Primus hätte fast einen Luftsprung gemacht vor Freude. »Ritter Raimund ist hier, und ich, Primus. Wir holen dich hier raus!«
Ein unterdrückter Schrei kam von unten.
Raimund hatte inzwischen die Strickleiter entdeckt, die zusammengerollt in der Ecke lag, und machte sie am Balken der Winde fest. Dann warf er sie ins Loch hinunter. »Kannst du alleine hochsteigen?«, fragte er.
Die Seile strafften sich, und von drunten kam ein
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