Die Tore des Himmels
sich über den Gefesselten. »Primus, komm her. Gib mir dein Messer. Und dann halt ihn fest.«
Ortwins Augen weiteten sich in Todesangst. Er trat mit den Beinen, wehrte sich verzweifelt gegen Primus’ eisernen Griff, doch es half ihm nichts. Mit Primus’ Messer zwang ihm Raimund die Zähne auseinander, dann nahm er seinen eigenen Dolch und trennte mit zwei energischen Schnitten Ortwins Zunge ab. Ein Blutstrom schoss aus Ortwins Mund und erstickte seinen Schrei in einem Gurgeln.
Aber es war noch nicht vorbei. Schnell und entschlossen stach Raimund seine Klinge einen halben Finger tief in Ortwins Adamsapfel hinein und drehte sie einmal nach links und einmal nach rechts, bevor er sie wieder zurückzog. »Hab ich von den Sarazenen gelernt, vor Damiette«, knurrte er, als er Primus’ entsetzten Blick sah. Dann löste er Ortwins Fesseln, schleppte ihn zum Rand des Loches, zog ihm den Strick unter den Armen durch und band ihn fest. Langsam, Fuß um Fuß, ließ er den Bewusstlosen mit der Winde ins Verlies hinunter. Am Schluss durchschnitt er den Strick und hängte den Haken wieder an das freie Ende.
»Jetzt versteh ich«, sagte Primus.
Kurz nach Sonnenaufgang öffnete der junge Torwart dem landgräflichen Waffenmeister Raimund von Kaulberg und seinem Diener das Tor der Marburg. Sie hatten ein Packpferd bei sich, über dessen Rücken ein längliches Bündel geschnallt war. Gemächlich und ohne jede Eile ritten sie in die Stadt hinunter.
Gisa
I ch wollte nicht, dass er mich so sieht. Ein Mensch nach sechs Wochen Kerker ist kein schöner Anblick. Mein Haar war voller Läuse, sie saßen in meinen Wimpern, meinen Augenbrauen, meiner Scham. Ich stank nach meinen eigenen Exkrementen, war bis auf die Knochen abgemagert. Ich konnte mich kaum aufrecht halten, geschweige denn stehen oder gehen. Sie mussten mich in Decken einwickeln und auf Ortwins Pferd binden, um mich aus der Burg zu schaffen. Jedes Geräusch bohrte sich dabei in meine Ohren wie tausend Nadeln. Aber noch schlimmer war der maßlose, der unerträglich stechende Schmerz, der meine Augen traf, als sie mich am Morgen meiner Befreiung nach draußen brachten. Ich hatte zu lange in vollkommener Finsternis gelebt. Nun war da eine unglaubliche, blendende Helligkeit, ein alles umfassendes Licht wie von tausend Sonnen, nichts als weißes, gleißendes Leuchten. Ich war blind.
Sie brachten mich in Primus’ und Miriams Dachkammer. Miriam wusch mich, kämmte mir das Ungeziefer aus den Haaren, rieb meine schlaffen Glieder mit Essig und Wein ab. Ich lag da und ließ alles mit mir anstellen; ich war kaum fähig, etwas zu fühlen oder zu wollen. War dies Wirklichkeit? War ich gerettet? Ich hatte längst mit allem abgeschlossen, dort unten in der Dunkelheit. Und nun sollte ich plötzlich leben? Das schien mir seltsam, ja grotesk. Ich konnte es nicht glauben. Aber da waren die Stimmen der anderen, ihre liebevollen Berührungen. Miriams Duft nach den Kräuterölen, die sie im Hospital benutzten. Primus’ aufmunternde Witzchen. Michels helles Kinderlachen. Und da war Raimunds Liebe, die mich umfing wie eine sanfte Hülle, die ich tief in mir spürte, sobald er an mein Lager trat. Er fütterte mich löffelweise mit Brühe, denn ich erbrach alles außer in Wasser eingeweichtem Brot. Er saß stundenlang bei mir und erzählte Geschichten, nur um mich irgendwie wieder zum Leben zu erwecken. Er wiegte mich in seinen Armen. Er bat mich tausendmal um Verzeihung, bis ich es ihm verbot.
Langsam, ganz langsam, begriff ich, dass es vorbei war. Ich würde leben!
Und als sich meine Augen nach vielen Tagen endlich von der Kerkerfinsternis erholten, als ich wieder die Welt mit all ihren Farben und Gestalten wahrnehmen konnte, da weinte ich vor lauter Freude und Dankbarkeit. Ich würde wieder glücklich sein! O Himmel, da war noch so viel, was ich tun wollte! So viele Wünsche, die in Erfüllung gehen konnten! So viele Träume, die wahr werden durften!
Und da war Raimund, meine Liebe!
Wartburg, Februar 1232
» O nkel Heinrich, zeigst du mir die neuen Hellebarden in der Waffenkammer?« Der inzwischen fast zehnjährige Hermann zupfte an Heinrich Raspes Ärmel.
»Jetzt nicht, mein Junge. Frag den Schlotheimer, der geht mit.«
Der Landgraf sah seinem Neffen nach, wie er das Turmzimmer verließ. Der Bub wurde seinem Vater immer ähnlicher, eine stete Erinnerung an die Schuld, die er auf sich geladen hatte. Vielleicht war es das, was ihn bisher davon abgehalten hatte, ihn umbringen zu
Weitere Kostenlose Bücher