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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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von Westen her. Drunten im Tal unter den Weinbergen floss träge die Unstrut. Ich rannte hinüber in den Garten, wo wir noch vor einer Stunde auf der Wiese gesessen hatten. Das weiße Band war mein schönster Haarschmuck, und ich wollte es unbedingt wiederhaben. Auf der Wiese war niemand mehr, alle saßen schon beim Abendmahl. Ich suchte und suchte, aber umsonst. Auch im Kräutergarten fand ich es nicht, nicht bei den Rosen und nicht unterm Quittenbaum. Schließlich ging ich in die äußerste Ecke des Burggartens, dorthin, wo die Himbeeren wuchsen und eine verwilderte alte Hainbuchenhecke stand.
    Da sah ich ihn, versteckt hinter grünen Zweigen. Er stand an das hüfthohe Mäuerchen gelehnt, und er war nicht allein. Neben ihm auf dem Mauersims saß eine junge Frau im scharlachroten Kleid. Sie trug das herrliche kastanienbraune Haar aufreizend offen, ganz ohne Band oder Netz fiel es ihr über Brust und Rücken. Ich kannte sie, es war Eilika von Fahner, die Nichte des Kämmerers. Jetzt warf sie den Kopf in den Nacken und lachte, glockenhell und verführerisch. Raimund, mein Raimund, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie versetzte ihm scherzhaft einen Schlag mit dem Handschuh. Ich stand da wie angewurzelt und konnte keinen Schritt weitergehen. Die beiden hätten mich ganz leicht sehen können, aber sie hatten ja nur Augen füreinander. Und dann küsste er sie, dort beim Mäuerchen. Sie legte die Arme um seinen Hals, er fasste sie um die Hüften. Sie hörten überhaupt nicht mehr auf. Ich hatte das Gefühl, jemand risse mir das Herz aus dem Leib, blutwarm und brennend. Er liebte eine andere! Sein Versprechen, er hatte es gebrochen! Oder hatte er es nie ernst genommen, nie so ernst wie ich? Hatte ich mir nur eingebildet, dass er mich oft minniglich ansah? War es ein Hirngespinst gewesen, dass er sich mir anversprochen hatte? Das hier war jedenfalls kein Hirngespinst: Er streichelte Eilikas Haar, küsste sie in die Halsbeuge, biss ihr ins Ohrläppchen. Ich weiß nicht, wie lange ich da stand und zusah. Irgendwann drehte ich mich um und rannte aus dem Garten, als sei der Leibhaftige hinter mir her.
    Im Frauenzimmer warf ich mich aufs Bett und weinte die ganze Nacht. Niemand konnte mich trösten, und ich wollte auch niemandem meinen Kummer erzählen. Tagelang ging ich nicht aus dem Zimmer. Die anderen brachten mir zu essen, aber mir war alles wie zugeschnürt, ich konnte kaum einen Bissen hinunterbekommen.
    Herr Walther war es, der mich mit seinen Liedern tröstete. Er fragte mich, warum ich so bleich und still sei, und da gestand ich ihm meinen Schmerz. Lächelnd nahm er mich in den Arm. »Die erste Liebe tut immer am meisten weh«, sagte er leise, und dann sang er:
    »Viel minnigliche Minne, du,
    durch dich verlor ich meinen Sinn.
    Gewaltig bringst du mich um meine Ruh,
    wogst mir im Herzen her und hin.
    Wer gab dir, Minne, die Gewalt,
    dass du so groß und mächtig bist?
    Du zwingest beide, Jung und Alt,
    dawider gibt es keine List …«
    Die süße Melodie linderte meinen Schmerz nur vorübergehend. Und auch Herrn Walthers Worte halfen nur wenig. »Schau, Gisa«, erklärte er mir, »der Kaulberger, das ist schon ein rechter Prachtkerl, ein Ritter, als käme er geradewegs von König Artus’ Hof. Und du bist ein wunderhübsches Fräulein und eine große Liebe wert. Aber überleg einmal: Herr Raimund ist doch viel zu alt für dich. Der braucht ein Weib, das im Alter zu ihm passt, eben so eine wie die Eilika von Fahner. Für dich kommt noch die Zeit, und du wirst den schönsten Ritter weit und breit bekommen, das weiß ich ganz gewiss.«
    Meinen Schmerz linderte das nicht.
     
    Und dann, am Tag vor Michaeli, bekam ich letzte Sicherheit von Elisabeth.
    »Ich hab grade mit Ludwig gesprochen«, sagte sie. Er war ja immer ihr Lieblingsbruder gewesen, zu dem sie das meiste Vertrauen hatte. »Er hat Herrn Raimund gefragt. Er und die blöde Kuh wollen nächstes Jahr heiraten.«

Primus
    I ch bin mit meiner Mutter und meinem Brüderchen Michel im Wald hinter unserem kleinen Acker. Ich sitze im Heidekraut und werfe ein paar trockene Tannenzapfen auf das Bündel, das seit neuestem mein Bruder ist und das ich gar nicht leiden kann. Das Bündel ist ganz fest gewickelt, nur oben schaut der kahle runde Michelkopf heraus, wo vorne ein gelblicher Grind drauf ist. Mutter sagt, sie muss ihn jeden Tag einwickeln, damit die Arme und Beine gerade wachsen, und mich hat sie genauso eingewickelt. Jetzt brüllt er, weil ich ihn am Ohr getroffen

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