Die Tore des Himmels
Landgrafen offenbar wurde. Vor dem Hofadel und uns Kindern hatte man es so lange wie möglich zu verbergen versucht, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr. Wenn der Landgraf seine dunklen Stunden hatte, hörte man ihn heulen und brüllen. Der ganze Hof musste dann still sein, alle waren wie gelähmt, nichts durfte geschehen, was den Kranken hätte aufregen können. Niemand wagte sich zu ihm, wenn er in diesem Zustand war, niemand außer der Landgräfin und dem Arzt. Wir Kinder versteckten uns jedes Mal, wenn es wieder so weit war. Wir hörten, wie er nebenan schrie und tobte, Sachen zertrümmerte, dann wieder schluchzte und jammerte. Es war zum Fürchten. Und auch in den Zeiten vorübergehender Besserung schlich er herum wie ein Geist, düster, in sich gekehrt, die Gedanken ganz woanders. Er magerte ab, wurde bleich, seine Wangen fielen ein, die Augen ruhten tief in den Höhlen. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange das so ging, aber eigentlich war er schon ein Jahr vor seinem Ende tot. In seinem Körper hauste statt der Seele ein böser Geist, so redeten die Leute später.
Weil nun der Landgraf schleichend und unaufhaltsam dem Wahnsinn anheimfiel, rief man den ältesten Sohn nach Hause, der gerade zur Vervollkommnung seiner ritterlichen Erziehung am Königshof weilte. Es war absehbar, dass Hermann nicht mehr lang würde regieren können. Sein gleichnamiger Sohn kam denn auch bald in Thüringen an, immer noch dünn und schlaksig, mit strähnigen braunen Haaren, langem Hals und vorstehendem Adamsapfel, der beim Schlucken immer auf und ab wippte.
Äußerlich war der junge Hermann seiner Mutter sehr ähnlich und redete auch so wie sie, aber von der Art her kam er nach seinem Vater. Ich fragte mich, ob er wohl auch diesem bösen Glauben anhing, und wünschte mir, es sei nicht so. Uns kleine Mädchen würdigte er keines Blickes, obwohl doch Elisabeth seine Braut war. Stattdessen stieg er den Mägden vom Gesinde nach, sagte zumindest Els, die Hühnermagd, und dass er sich wohl noch ordentlich die Hörner abstoßen müsse. Ich verstand nicht, was sie meinte, aber das mit den Hörnern machte mir schon wieder Angst, und ich dachte an Wido und die Teufelsmesse.
Ich merkte Elisabeth schon an, dass sie gar nicht froh über die Ankunft ihres zukünftigen Gatten war. Sie konnte Hermann nicht leiden, so wie wir alle. Wir mochten Heinrich Raspe ganz gern, obwohl er manchmal recht überheblich sein konnte. Konrad war unser Nesthäkchen, den beschützten wir. Aber Ludwig, der war uns immer der Liebste. Er behandelte uns nie wie dumme Dinger, half uns, wenn wir ihn brauchten, und war sich nie zu schade, etwas mit uns zu unternehmen, obwohl er ja etliche Jahre älter war. Seine stete, ungezwungene Freundlichkeit machte ihn überall am Hof beliebt, ganz im Gegenteil zu seinem Bruder Hermann, der eine raue, wenig liebenswürdige Art hatte. Einmal hatte er Elisabeth sogar als fette Gans bezeichnet, worauf sie heulend aus der Stube stürzte. Guda und ich rannten hinterher, um sie zu trösten. »Der meint das bestimmt nicht so«, sagte Guda.
»O doch!«, schluchzte Elisabeth.
Ich tupfte ihr mit dem Ärmel meines Surkots die Tränen weg. »Das nächste Mal, wenn er so frech ist, trittst du ihm einfach gegen das Schienbein«, versuchte ich zu scherzen.
»Wie denn!« Elisabeth fuhr hoch. »Ich muss Frieden mit ihm halten. Schließlich soll ich ihn doch heiraten.«
Und dann schluchzte sie auf und warf ihre Arme um mich. »Ach Gisa, ich will ihn nicht!«
Ich drückte sie fest an mich. Guda meinte: »Vielleicht ist er gar nicht so schlimm, wenn ihr erst mal Mann und Frau seid.«
Sie sah uns mit wildem Blick an. »Doch, ich weiß es«, sagte sie. Und dann ballte sie die Fäuste und stieß hervor: »Ich hasse ihn. Ich hasse ihn, ich hasse ihn.«
Wir konnten sie nicht trösten. Mir tat sie so leid, denn ich wusste ja – oder ich glaubte zu wissen –, wie schön es war, einem Mann anverlobt zu sein, den man liebte. Gut, dass keiner von uns damals ahnte, wie grausam die fürstliche Verlobung ein gutes Jahr später enden würde.
Die Landgräfin bestand darauf, dass Elisabeth sonntags neben Hermann in die Kirche einmarschierte. Dafür wurde sie jedes Mal herausgeputzt wie für ein großes Fest, sie verabscheute das. Zwei Stunden vor Beginn der Messe striegelten zwei Zofen ihr die störrischen Haare und bändigten sie mit Nadeln und Schleifen. Dann legten sie ihr schöne Kleider an, feine Ärmel und Handschuhe, ließen sie in
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