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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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beschieden. Die kleinen Striche zeigen, dass du öfters krank sein wirst oder in Gefahr, aber du wirst alles überstehen. Und hier, ts, ts, ts, dieser Hügel unter dem Mittelfinger, er zeigt an, dass du später einmal Glück haben wirst. Er kann auch Geld bedeuten oder Liebe, das kommt drauf an. Was einer halt so unter Glück versteht. Ah, und was ist wohl das?« Sie bringt ihre Nase ganz nah an meine Handfläche heran und runzelt die Stirn. Wieder kratzt ihr spitzer Nagel auf meiner Haut, malt Kringel und Zeichen. Sie macht kleine Geräusche dabei, die irgendwie aus ihrem Bauch kommen. Sanft wiegt sie ihren Körper hin und her, als bewegte ihn der Wind. Und endlich lässt sie meine Hand sinken. Sie schaut mich an, und ihr Gesicht strahlt, dass es fast schön ist, fast wie das einer jungen Frau. »Ein Engel«, sagt sie und richtet sich auf. Ihre Stimme ist plötzlich ganz klar. »Ein Engel wird über dich wachen. Du wirst Böses sehen, und du wirst Böses tun. Aber du wirst erleben, wie sich die Tore des Himmels öffnen.«
    Dann sackt sie in sich zusammen und schließt die Augen.
     
    Ich bin noch ganz verwirrt. Der Vater zieht mich hoch, und wir gehen ganz nachdenklich heim.
    »Was bedeutet das, ich werde Böses tun?«, frage ich kleinlaut. »Ich will aber doch gar nichts Böses tun.«
    Vater zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Bub. Aber das Wichtige ist: Du hast einen Engel, der auf dich aufpasst. Der beschützt dich.«
    »Und die … Tore des Himmels?«, will ich wissen.
    »Das heißt bestimmt, dass du einmal in den Himmel kommst. Und das ist doch schön, oder?«
    Ich nicke. Das mit dem Bösen macht mir schon Sorgen, aber ich freue mich über den Engel und das ewige Leben. Wenn es stimmt, was die Wahrsagerin erzählt hat, dann muss mir nicht bange sein.
     
    »Mama, Mama, ich hab einen Engel!«, rufe ich, als wir heimkommen. Wir erklären der Mutter alles, und sie freut sich auch.
    Am Abend gibt es bei uns zum ersten Mal wieder satt zu essen. »Auch wenn uns nichts mehr gehört«, seufzt Mutter, »wir werden schon leben können. Der liebe Gott hilft uns bestimmt. Und dein Engel.« Sie fährt mir durchs Haar.
    Vater rülpst. Er trinkt etwas aus einem Krug, den er aus Eisenach mitgebracht hat. Dann sagt er undeutlich: »Der liebe Gott, der ist uns was schuldig! Kann der nicht die Dinge auf der Welt gerecht verteilen, anstatt immer bloß uns arme Leute mit Unglück zu schlagen?«
    Mutter flüstert: »Versündig dich nicht, Mann.«
    In der ersten Nacht kuscheln wir uns ganz nah aneinander.

Eisenach, am Tag vor Weihnachten 1216
    D er Festsaal im zweiten Stock des Südflügels war hell erleuchtet. In eisernen Wandringen steckten blakende Fackeln, auf den Tischen brannten alle Dochte der tönernen Talglämpchen und mitten im Raum stand ein riesiger Kandelaber mit vierundzwanzig dicken Wachskerzen. Die Fenster hatte man mit pergamentbespannten Rahmen abgedichtet, damit der kalte Dezemberwind die Festgäste nicht frieren ließ, aber natürlich spürte man überall einen eiskalten Luftzug, das ließ sich im Winter nicht verhindern. Nur unmittelbar neben den glimmenden Kohlebecken war es einigermaßen warm, und vor dem großen Kamin – auf der dem Feuer zugewandten Körperseite.
    Eine riesige U-förmige Tafel hatten die Hausknechte aufgebaut und schön mit weißen Tischtüchern abgedeckt, die waren aus feinstem Linnen und reichten bis zum Boden. Auf den Sitzbänken lagen weiche damastene Polster, und die steinernen Fliesen waren mit frischem Stroh bestreut, damit es von unten nicht so kalt aufstieg. Im hinteren Drittel des Saales standen der erste und zweite Gesindetisch, einfache Bänke und Bretter auf Holzböcken. Hier durfte die Dienerschaft am Schmaus teilnehmen – nicht jeder Fürst hätte dies so gehalten, aber Hermann war seit jeher bekannt für seine Großzügigkeit auch dem Hausgesinde gegenüber. Alles war für ein strahlendes Fest gerichtet, ein Fest, wie es der Landgraf sein Leben lang geliebt hatte. Alle waren sie geladen, der Hofadel, die Ministerialen, die Sänger und Dichter. Nur dass sich diesmal niemand so richtig auf die Lustbarkeiten freute.
    Sophia hatte die Feier anbefohlen, aus lauter Verzweiflung. Seit Monaten stand es um den Landgrafen schlecht, abwechselnd war er von der Tobsucht und der Melancholie befallen. Der Leibarzt, der sonst doch immer und für alles eine Medizin kannte, hatte am Nikolaustag händeringend erklärt, er wisse sich keinen Rat mehr. Keine Schonkost hatte

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