Die Tore des Himmels
Gefühl, dass die Strafe sie überhaupt nicht traf. Im Gegenteil, sie nutzte die Zeit. Täglich verbrachte sie Stunde um Stunde mit Wollespinnen, was bei der Landgräfin nicht gerade Begeisterung auslöste. »Das ist keine Beschäftigung für eine Prinzessin«, tadelte sie ihre Ziehtochter. »Was soll das? Wir tragen keine Wolle. Warum machst du nicht etwas Schönes aus Broschat oder Barchent, hm? Und in der Wäschekammer haben wir so herrliche gelbe Seide aus Lucca, die ist erst letzte Woche angekommen! Nimm davon und näh dir zusammen mit der Kleidermagd ein paar schöne Ärmel!«
Es war sinnlos. Elisabeth konnte hartnäckig sein wie ein Maulesel. Ich bewunderte sie. Hatte sie denn keine Angst vor Sophia? Aber nein, sie war sich damals schon sicher, dass sie das Richtige tat. Unbeirrbar spann sie und spann, hortete die fertigen Wollknäuel unter ihrem Bett und ließ sie dann von Guda und den Kammerdienerinnen zu Decken und Tüchern verweben. Den halben Winter lang fragten wir uns, was sie mit den Sachen anstellte, bis Agnes es eines Tages zufällig herausfand. Elisabeth winkte nämlich vom Fenster der Roten Stube aus, das zur Gasse hinausging, Bettler herbei, wenn sie zufällig vorbeikamen. Denen warf sie dann das Wollzeug zu. Was dazu führte, dass in der Gasse immer mehr verlotterte Gestalten, Gabenheischer und Bresthafte herumlungerten und auf weitere Geschenke warteten. Was wiederum dazu führte, dass Elisabeth, die mit dem Spinnen gar nicht mehr nachkam, schließlich alle möglichen Dinge verschenkte, die sie irgendwo zusammenraffte, auch kleine Kupfermünzen aus ihrer Aussteuertruhe. Agnes tratschte ihre Entdeckung natürlich sofort weiter, worauf Sophia einschritt und der Sache ein Ende machen wollte, indem sie die Tür der Roten Stube absperrte. Elisabeth stand ruhig dabei und sagte nur: »Du weißt doch, Mutter: Ein freudiger Geber muss sich einst vor dem Jüngsten Gericht nicht verteidigen – seine Almosen werden für ihn streiten.«
Die Landgräfin hielt inne. Sie beide wussten genau, dies war einer der Lieblingssprüche des Kaplans Berthold, und den hatte sie schließlich selbst in die Hofkapelle berufen. Elisabeth hatte sie tatsächlich mit ihren eigenen Waffen geschlagen! Sophia steckte den Schlüssel wortlos wieder ein. Die Tür zur Roten Stube blieb offen.
Seit diesem Vorfall nahm die Landgräfin Elisabeth ernster, sie hatte verstanden, dass ihre ungarische Ziehtochter kein Kind mehr war, sondern eine eigenständige Persönlichkeit. Und auch bei mir fiel Sophia etwas auf, das sie bisher nicht wahrgenommen hatte: Ich hatte mich äußerlich verändert. Hübsche feste Brüste waren mir gesprossen wie runde Äpfel, meine Schenkel und mein Hintern waren üppiger geworden. Im Januar dann hatte ich zum ersten Mal meine Rosen, was Agnes, die ja ein paar Monate älter war als ich, vor Neid erblassen ließ.
Die Landgräfin sah mich irgendwann ganz merkwürdig an. »Kindchen«, sagte sie dann verwundert, »aus dir ist mir ja eine rechte Frau Venus geworden. Bald werden wir dich verheiraten müssen!«
Frau Venus, dachte ich, lieber Gott, das kann doch gar nicht wahr sein. Ich hatte nie gewagt, mich hübsch zu finden. Wenn ich in den Spiegel aus poliertem Silber oder auf eine glatte Wasseroberfläche geschaut hatte, hatte mir immer ein blasses, hellhaariges Ding entgegengeblickt, mit sommersprossiger Stupsnase, einem zu großen Mund und großen blauen Augen. Doch in letzter Zeit hatte ich immer öfter die Blicke der Männer in meinem Rücken gespürt. Und auch die von Agnes. Sie fing an, sich eine Pampe aus Eiern, Essig, Senfmehl und Pfeffer ins Gesicht zu schmieren, um so helle Haut zu bekommen, wie ich sie hatte. Auch versuchte sie, ihr rehfarbenes Haar zu bleichen. Dafür besorgte sie sich beim Eisenacher Apotheker heimlich eine Art Balsam aus Holunderrinde, Ginsterblüten, Safran und Eigelb, den sie über Nacht auf den Kopf tat. Es nutzte bloß nichts, und ich muss gestehen, dass ich schon ein wenig Schadenfreude empfand.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich an einem Winternachmittag versucht hatte, meine Haare so nach hinten zu flechten wie Eilika. Der Spiegel, der doch nie mein Freund gewesen war, hatte mir zum ersten Mal das Bild einer Frau gezeigt! Einer wunderschönen, verführerischen Frau mit geschwungenen Brauen, hohen Wangenknochen und einem Mund zum Küssen! Das war ich! Noch ganz erfüllt von meiner Entdeckung, wollte ich mich in meiner neuen Haartracht den anderen zeigen. Und als ich
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