Die Tore des Himmels
werde ich ihren Blick von damals vergessen, werde nie vergessen, wie sie dastand und diese kranken Menschen ansah. Es war auch bei ihr das erste Mal, dass sie mit dem Leid und Elend der einfachen Leute in Berührung kam – eine schicksalhafte Begegnung, die sie nie mehr loslassen würde.
Der Ritter von Vargula packte uns beide und schob uns schnell zur Tür hinaus. Draußen bestiegen wir wortlos und wie vor den Kopf geschlagen unsere Pferde und ritten heim.
Am nächsten Tag war Elisabeth verschwunden. Sie musste sich schon vor Sonnenaufgang aus dem Frauenzimmer geschlichen haben, als wir alle noch schliefen. Die Kammerfrau war in heller Aufregung, auch wir Mädchen suchten überall, aber Elisabeth war nirgends zu finden. Nicht in der Kapelle, nicht im Garten, nicht im Küchentrakt, wo sie so gern Süßes stibitzte. Schließlich liefen wir zur Landgräfin, die noch einmal von der Dienerschaft alles durchkämmen ließ. Ohne Erfolg. Gegen Mittag hatte ich endlich den richtigen Einfall. Ich sah im Marstall nach, und richtig, Elisabeths Zelter fehlte. Daraufhin weckten wir den jungen Torwart, der bis zum Aufschließen des Burgtors am Morgen Dienst gehabt hatte. Ja, sagte der, die kleine Ungarin sei gleich bei Tagesanbruch stracks durchs offene Tor geritten, er habe ihr noch nachgerufen.
»Du elender Nichtsnutz!«, schrie Sophia ihn an. »Welch ein Trottel von Torwart bist du, eines der Landgrafenkinder alleine zur Burg hinauszulassen?« Die Landgräfin war außer sich vor Angst und Sorge. Was konnte Elisabeth da draußen alles geschehen! Oder war sie gar aus der Burg geflohen? Himmel, auf den Straßen um Eisenach lauerten doch überall Wegelagerer, Räuber und Unzuchtler, die nur darauf warteten, dass ein Mädchen allein vorbeikam!
»Vergebt mir, Herrin, ich bitt Euch!« Der Torwart hob flehend die Hände.
»Lass dir deinen Lohn auszahlen und dann fort aus meinen Augen!« Sophia kannte keine Gnade. Sie war außer sich.
»Ich glaube, ich weiß, wo sie ist«, kicherte Agnes. »Bei den jämmerlichen Gestalten im Wald, in deren Hütte wir waren. Diese elende, stinkende Köhlerfamilie. Sie hat gestern Abend ja von nichts anderem mehr gesprochen.«
Die Landgräfin fuhr hoch und versetzte ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige. »Warum hast du das nicht gleich gesagt!«, rief sie zornig. »Holt mir den Vargula!«
Ich wusste, dass Agnes recht hatte. Und wirklich, nach anderthalb Stunden kam ein kleiner Suchtrupp, den Walter von Vargula angeführt hatte, mit Elisabeth im Schlepptau zurück. Sie war schmutzig, das Haar zerzaust, ohne Mantel und Schuhe. Aber um ihre Lippen spielte ein glückliches, fast entrücktes Lächeln. Kaum war sie abgestiegen, rauschte schon Sophia mit wehenden Gewändern in den Hof, ging auf sie zu und gab ihr die zweite Ohrfeige des Tages. »Bist du denn närrisch, uns solche Sorgen zu machen?«, rief sie. »Wie kannst du ohne Schutz und Aufsicht aus der Burg reiten? Weißt du überhaupt, wie gefährlich das ist? Und habe ich dir nicht beigebracht, dass eine Dame von Stand niemals alleine irgendwohin geht?«
Elisabeth stand da und lächelte immer noch. »Mutter«, erwiderte sie, »du hättest sie sehen sollen. So arme Leute. So arme, arme Leute.«
Sophia verzog unwillig den Mund und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht deine Angelegenheit, Kind. Und wenn du hättest helfen wollen, hättest du einen der Knechte schicken können.«
»Ich hab ihnen Brot gebracht, Mutter. Und von unserer Medizin, die wir immer gegen das Magenzwicken bekommen. Und eine Wolldecke. Sie hatten nicht einmal eine Wolldecke.«
»Und Mantel und Schuhe hast du auch dort gelassen, wie?« Sophias Ärger war noch nicht verraucht.
Elisabeth nickte. »Sie hatten nur Fetzen am Leib, Mutter. So arme Leute. Und uns geht es doch so gut!«
Und dann breitete sie die Arme aus, sah zum Himmel auf und sagte: »Wie lieb muss mich der Herr Jesus haben, dass er mir das gezeigt hat!«
Von da an hatte Elisabeth Ausgehverbot. Und wir gleich mit, was uns nicht gerade freute. Vor allem, weil wir im Dezember nach Eisenach hinunterzogen, wo man auf dem Markt hätte so schöne Sachen einkaufen können: Tücher und Bänder, feine hundslederne Handschuhe, beinerne Kämme, silberne Haarnadeln, all den hübschen Tand, den junge Mädchen so lieben. Aber so mussten wir im Steinhof bleiben. Agnes platzte fast vor Wut, und ich muss zugeben, dass auch ich böse auf Elisabeth war.
Sie hingegen nahm den Hausarrest ohne Murren an. Ich hatte das
Weitere Kostenlose Bücher