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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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Gerber aber behalten. Meine Aufgabe ist es, fürs »ungarisch Gerben« Häute mit Talg einzureiben. Je nachdem, wie viele Häute ich bis mittags schaffe, bekomme ich mehr oder weniger Lohn. Ich bin stolz, denn mit meinem Geld kauft die Mutter jeden Tag unser Essen.
    Das war ein armseliges Weihnachten, mit dem Vater ohne Arbeit. Wenigstens ist er inzwischen wieder in Lohn und Brot gekommen, als Gehilfe bei einem Seilmacher. Aber so viel wie beim Gerber verdient er da nicht mehr. Wir haben den Wirt vom »Wilden Mann« gefragt, ob er nicht vorübergehend mit weniger Mietzins zufrieden wäre, bis alles besser werden möcht, aber er hat nur gesagt: »Zahlt oder geht.«
    Deshalb hilft Mutter nun jeden Tag in der Taverne am Spülstein, aber bevor sie kommt, sperren sie die Vorratskammer zu, weil sie Angst haben, dass sie sonst was für uns klauen würde.
    Wir haben dauernd Hunger. Am Nachmittag, wenn ich nicht arbeiten muss, streunen Michel und ich mit knurrenden Mägen durch die Stadt auf der Suche nach Essbarem oder Sachen, die wir brauchen können. Manchmal ergattern wir auf dem Markt ein Stück Obst, das heruntergefallen und aufgeplatzt ist. Oder wir finden ein Eckchen von einer Pastete, das auf dem Boden liegt und wo noch keiner draufgetreten ist. Einmal stehe ich vor dem Brothaus, und es gibt Striezel, die riechen so gut, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich stelle mir vor, wie ich so einen Striezel esse, mit dick Butter und süßem Honig. Wie ich in den weichen Teig beiße. Wie die Butter und der Honig in meinem Mund zerfließen und auf der Zunge zergehen. Ich überlege, wie viele Jahre im Fegefeuer es kostet, wenn ich jetzt nach so einem Striezel greife und damit weglaufe. Du sollst nicht stehlen, das sagt die Bibel, und das sage ich dem Michel auch immer. Man kriegt die Hand abgehackt, wenn sie einen erwischen. Trotzdem stelle ich mich unauffällig ganz nah an die Süßigkeiten, und meine Finger tasten ganz von selber nach dem Striezel, der am weitesten vorn liegt. Da spüre ich, wie mich jemand am Ohr hochzieht. »Au«, schreie ich und hänge schon halb in der Luft, nur am Ohrläppchen, »aua, loslassen!«
    Die Bäckersfrau hält mein Ohr eisern fest. »Denk gar nicht erst dran, du Bankert, du Nichtsnutz, du Tropf, du elender!«
    Ich winde mich und greine, weil es so weh tut.
    »Jetzt hau ganz schnell ab, Bürschlein, und wenn du noch einmal in die Nähe kommst, kriegst du von mir eine Maulschelle, die darfst du dann behalten!«
    Endlich lässt sie mich los, und ich flitze wie der Blitz davon.
    Der Michel hat derweil etwas entdeckt. In der Gasse, die am Steinhof entlangführt, gibt es ganz viele Bettler, die warten auf irgendwas. Wir hocken uns auf eine Stufe und warten auch mit. Es ist kalt, und wenn man sich nicht bewegt, kommt zum Hunger auch noch die Friererei. Ich bin letzten Winter aus meinem alten, löchrigen Mantel herausgewachsen, den trägt jetzt der Michel. Für mich hat die Mutter dafür aus lauter Flicken einen Umhang zusammengenäht, der mir kaum bis zu den Knien reicht. Er sieht grässlich aus, und ich wollte ihn erst nicht anziehen, weil ich mich schäme. Aber dann ist es doch zu kalt geworden, und jetzt bin ich froh, dass ich ihn habe. Am schlimmsten sind aber die kalten Füße. Wir haben keine Schuhe, was im Sommer nichts ausmacht, aber im Winter schon. Mutter wickelt uns jeden Morgen Lumpen rum und schnürt sie fest, aber wenn der Boden feucht und schlammig ist, dann nässen die Lumpen durch. Michel hat schon seit Wochen Frostbeulen an den Füßen, die sehen aus wie Blasen, und Mutter schmiert sie mit Fett ein, wenn wir welches haben.
    Irgendwann geht im ersten Stock vom Steinhof ein Fenster auf, und droben schaut die Dunkle raus, die immer Sachen verschenkt. Wir springen auf und drängeln uns zusammen mit den anderen unter dem Fenstersims. Die Dunkle wirft ein Wolltuch heraus, und dann noch eins. Und dann ein paar Münzen hinterher. Wir strecken die Arme hoch, erwischen aber nichts. Jetzt fangen die anderen an, sich um die Sachen zu prügeln. Ein Einarmiger, der sich gerade noch an einer Krücke so ganz erbarmenswert dahingeschleppt hat, holt plötzlich seinen zweiten Arm unter dem Umhang vor und drischt mit der Krücke auf einem Blinden herum; ein Aussätziger verliert beim Raufen die Krusten im Gesicht, die er sich aus eingefärbtem Mehlpapp selber angeklebt hat. Das sehen die anderen Bettler und gehen auf die beiden los, weil Betrüger mag man nicht, die vermiesen einem das

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