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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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Also ziehe ich meinen Bruder weiter, bevor er Unsinn macht.
    Und dann sehe ich den großen Jungen von neulich, Ortwin. Er läuft so ganz unauffällig zwischen den Leuten herum, mit einer Unschuldsmiene. Aber in seiner Hand blitzt was – er hat ein Messerchen, ein ganz kleines! Plötzlich macht er eine schnelle Bewegung, zack! – schon hat er das Lederbändchen durchtrennt, mit dem der Zugbeutel am Gürtel einer Kramhändlerin festgebunden ist. Er schnappt sich den Beutel und rennt, da schreit die Frau laut Zeter und Mordio. Wieselflink schlängelt sich Ortwin durch die Menge und an mir vorbei, aber da stürmt ihm von der anderen Seite der Büttel entgegen. »Wart, Bürschchen!«, brüllt er, »dich hab ich gleich!«
    Ortwin dreht sich um und rennt zurück, wieder an mir vorbei, der Büttel hinterher. Da – ich weiß auch nicht, was mich gepackt hat – stelle ich dem Büttel ein Bein, er stolpert und fällt hin. Ich nichts wie weg, der Michel auch.
    Wir bleiben erst hinter der Kirche stehen und japsen nach Luft. »Spinnst du?«, keucht Michel. »Das war doch Ortwin, der miese Kotzbrocken von neulich!«
    Ich grinse. »Schon. Aber hast du gesehen, wie schön’s den Büttel aufs Maul gehauen hat?«
    Und dann steht der miese Kotzbrocken plötzlich vor mir. Er nickt anerkennend und sagt: »Meine Jungs haben gesehen, wie du den Alten flachgelegt hast. Gute Arbeit. Also, wenn du willst, bist du dabei.« Er deutet auf Michel, der grade versucht, unauffällig zu verduften. »Und dein Bruder auch.«
    Ich bin so stolz, dass ich platzen könnte, und komme mir mindestens zwei Ellen größer vor. Natürlich will ich dabei sein, was denn sonst? Ich spucke aus, zucke mit den Schultern und sage lässig: »Wenn’s sein muss.«
     
    Von da an treiben wir uns die meiste Zeit – wenn ich nicht zum Färberjohann muss – mit Ortwins Bande herum. Wir lernen Ecken in der Stadt kennen, wo wir noch nie gewesen sind: Da hausen die Armen, die Lediggänger, die Blinden, Krüppel und Bresthaften, unter Treppen, in Kellern und selbergebauten Buden aus wurmstichigen Holzlatten. Da ist unser Schweinestall noch Gold dagegen. Ich lerne, dass jede Mühle in der Stadt ihren Heiligen hat, jedes Wirtshaus, jedes Handwerk. Man muss bloß wissen, in wessen Namen man anklopfen und um Gaben heischen soll, dann wird einem immer gegeben. Hier ist es der Heilige Sebastian, da der Heilige Hiob, dort die Heilige Barbara. Ich lerne, dass es an Schlachttagen vor dem Fleischhaus Abfälle gibt, aus denen die Mutter noch eine Suppe kochen kann, dass neben der Nikolaikirche der Platz ist, an dem die Findelkinder betteln dürfen, und wenn man sich unauffällig daruntermischt, kriegt man was vom Pfarrer. Ich lerne, wie man sich durchs Fensterchen in die Hinterstube vom Badhaus quetscht und dort die Sachen klaut, die die Leute ausgezogen haben. Und wo man die weiterverkauft. Das ist ein lustiges Leben. Wenn es gut läuft, hab ich von einem Tag mit Ortwin mehr als von zehn Tagen Waidstampfen. Der Vater kriegt das alles gar nicht mit; meistens ist er sowieso nicht daheim. Und wenn er dann heimkommt, ist er besoffen. Das kommt vom Bier, sagt die Mutter, und es ist ihr ein Rätsel, wo er das Zeug herkriegt. Ich weiß es aber: Er bringt den ausländischen Bauleuten, die seit April wieder auf der Wartburg arbeiten, Essen und Trinken aus dem »Einhorn«. Jeden Vormittag geht er mit dem Esel los. Unterwegs bleibt er dann bei der Quelle unter der Burg stehen, füllt einen Teil vom Bier in ein Eimerchen, das er dort versteckt hat, und tut dafür Wasser ins Fass. Die Bauleute wissen gar nicht, dass sie Dünnbier kriegen, und der Vater säuft auf dem Rückweg fröhlich den Eimer aus.
    Ich würde auch mal gern auf die Wartburg hinaufgehen, aber natürlich nimmt mich der Vater nicht mit, und wenn ich zu arg drum bitte, kriegt er bloß die Wut und verpasst mir eine. Droben auf der Burg ist nämlich zur Zeit der Landgraf mit seinen sämtlichen Leuten. Das bedeutet, mein Engel und die Dunkle müssen auch da sein. Im Winter waren sie nur kurz in der Stadt; den Engel hab ich nur ein paarmal beim Kirchgang von weitem gesehen, die andere alle zwei Tage beim Almosenverteilen vor der Georgskirche. Ich glaub, jetzt kennt sie mich schon; sie hat mir auch jedes Mal was gegeben. Ich finde, sie sieht irgendwie traurig aus. Sie lacht auch nie. Also, wenn ich vom Adel wäre und müsste nie Hunger haben und könnte jeden Tag teure Kleider tragen und hätte so viel Geld, dass ich dauernd was

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