Die Tore des Himmels
alles anders gekommen. Aber ich war dagegen gewesen, und das lastete schwer auf meinem Gewissen.
Am dritten Tag verließ Raimund seine Zuflucht. Man konnte sehen, wie verzweifelt er war. Sein Blick war leer, seine Bewegungen fahrig, das Gesicht aschfahl unter der Sonnenbräune. Man brachte ihm sein Pferd und die Waffen; er gürtete sich das Schwert um und stieg auf. Keiner sprach ihn an, niemand winkte ihm zu, als er langsam den Burghof durchquerte und auf das Tor zuritt. Er musste sich in diesem Augenblick vorkommen wie der einsamste Mensch auf der Welt.
Da hielt ich es nicht mehr aus. Obwohl ich wusste, dass es mir noch mehr Schmerz bereiten würde, rannte ich hinter Raimund her. »Herr Raimund«, rief ich atemlos, »wartet!« Mein Haarband löste sich, und ich verlor auch noch einen Schuh, aber das war mir ganz gleich. Er ritt trotz meines Zurufs weiter; erst als ich ihn einholte, zügelte er endlich sein Pferd. Stumm hob ich die Hand zum Gruß.
Er rang sich ein trauriges Lächeln ab und nickte mir zu. Dann trieb er seinen Rappen an und passierte das Burgtor. Ich stand da und sah ihm nach. Da fiel mir noch etwas ein, und ich lief wieder hinter ihm her. Zum zweiten Mal hielt er an, und ich nestelte den leinenen Zugbeutel auf, den ich am Gürtel trug. Der Beutel enthielt meinen kostbarsten Besitz: eine kleine Schneekopfkugel. Das runde Ding aus Porphyrstein ließ sich öffnen; sein Inneres war über und über gefüllt mit winzigen fliederfarbenen Amethystkristallen. Solch seltene Kugeln fand man nur am Schneekopf, einem der hohen Gipfel des Thüringer Walds, und sie galten als Glücksbringer.
Ich hielt Raimund die kleine Kostbarkeit hin. »Bringt Ihr mir die zurück, irgendwann?«
Er lächelte wieder. »So Gott will«, sagte er, nahm die Kugel und steckte sie ein. Dann gab er seinem Hengst die Sporen und galoppierte davon.
Er hatte mich nicht Giselchen genannt, diesmal.
Es muss auch in diesem Sommer gewesen sein, dass Elisabeth zum ersten Mal heimlich ein krankes Kind auf die Burg brachte. Sie war mit zwei Dienerinnen in die Stadt gegangen, um Süßigkeiten zu kaufen – damals waren wir ganz versessen auf die Honigmandeln eines Creuzburger Bäckers. Als sie zurückkam, benahm sie sich merkwürdig. Sie wirkte irgendwie aufgeregt, raffte Tücher zusammen und eine irdene Schüssel und war plötzlich verschwunden. Und natürlich war Guda auch weg. Als es auf die Essenzeit zuging, suchte ich die beiden.
Ich fand sie hinter dem Mäuerchen beim tiefen Brunnen. Elisabeth kämmte grade einem kleinen Mädchen mit dem Läusekamm die Nissen aus dem Haar. Das Kind war vielleicht drei oder vier Jahre alt, sein Gesicht und die Arme waren bedeckt von einem rotpusteligen, eitrigen Ausschlag. Es weinte, weil das Kämmen gar so schlimm ziepte – wie immer stellte sich Elisabeth nicht besonders geschickt an und rupfte arg an den verfilzten Locken. Offensichtlich hatte sie die Kleine gewaschen; die Schüssel mit Schmutzwasser stand noch da. Ein paar Brocken Brot lagen daneben, auch ein Tiegel mit Gänseschmalz, den sie aus der Küche stibitzt haben musste. »Du meine Güte, was machst du denn bloß?«, rief ich. »Wenn die Mutter das erfährt!«
Elisabeth arbeitete ungerührt mit dem Kamm weiter. »Schau es doch an, das arme, arme Ding«, erwiderte sie. »Hungrig war sie, und die Krätze hat sie so schlimm. Ich musste sie einfach mitnehmen.«
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, kam es beim Tor zu einem kleinen Tumult. Der Torwart versuchte, eine zerlumpte Frau abzuwehren, die unbedingt hereinwollte. Sie schrie und zeterte, während er sie mit barschen Worten abzuweisen versuchte. Ich rannte hin und hörte, wie die Frau jammerte: »Mein Kind will ich, ich will doch nur meine Kleine! Die Schwarze hat sie mitgenommen, einfach so, als ich grad beim Waschen am Fluss war. Die Leute haben’s genau gesehen. Lasst mich, ich will mein Kind! Trudel! Trudel!« Sie schrie immer lauter, es konnte nicht mehr lange dauern, bis welche vom Gesinde aufmerksam wurden, und dann würde es auch Sophia erfahren. Ich lief zu der Frau, die immer noch mit dem Wächter stritt, und sagte atemlos: »Wartet einen Augenblick, ich bring Euch das Kind!«
Elisabeth war gerade damit fertig geworden, Gänseschmalz auf die Pusteln der Kleinen zu schmieren, und ließ es ohne Widerspruch zu, dass ich das weinende Mädchen bei der Hand nahm und zum Tor brachte. Die kleine Trudel war sichtlich verstört; als sie ihre Mutter sah, riss sie sich los und fiel
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