Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
war ungewohnt für ihn. Er hatte sich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr schwach gefühlt, nicht einmal, wenn sich Klingen in seine Haut bissen und Keulen von seinen Knochen abprallten. Und doch konnte er sich sehr gut an das Gefühl erinnern, denn er hatte es schon einmal empfunden, sehr intensiv. Damals hatte er zwei Tote in den Armen gehalten; es waren nicht die Leichen von Feinden. Er hatte in ihre Augen gestarrt, während der Regen ein Tuch aus frischem Wasser über ihre Gesichter gelegt hatte.
Damals war er zusammengebrochen, so wie jetzt auch.
Und auch damals hatte er geweint.
Salzige Tropfen vernebelten seine Sinne, aber doch nicht so sehr, dass er den neuen Geruch nicht wahrgenommen hätte, der ihm in die Nüstern kroch. Er dachte nicht lange darüber nach, zu wem dieser Geruch gehörte, ob es etwas war, das er töten sollte oder nicht. Seine Trauer schlug in Wut um, als er das Aroma tief einsog und sich vorstellte, dass es sich schon sehr bald in den kupfernen Geruch von Blut verwandeln würde.
Getrieben von seiner Wut raste er auf allen vieren über den Strand. Als er seine Beute erblickte, hielt er nur an, um sich zu überlegen, wie sie sterben könnte.
Sie, denn sie roch nach Weiblichkeit, war blass, und ihre helle Haut glänzte noch gespenstischer als die der spitzohrigen Menschenfrau. Sie war so fahl, dass sie fast durchscheinend wirkte, wie Sonnenlicht, das auf dem Meer schimmerte. Ihr Haar hatte die Farbe einer gesunden Baumkrone
und fiel ihr fließend über den Rücken. Das endlose Grün wurde nur von der großen blauen Flosse unterbrochen, die auf ihrem Kopf saß.
Die Abysmyths haben auch solche Flossen, dachte er missmutig.
Sie war zierlich und anmutig, trug ein hauchdünnes Gewand aus Seide, das kaum das leuchtende Blau und Weiß ihrer Haut verbarg. Durch eine Nase, kaum größer als ein hervorstehender Knochen, atmete sie einen feinen Dunst aus. An ihrem Hals schienen mit Federn besetzte Kiemen zu flattern.
So abstoßend sie auch aussehen mochte, der Anblick des Jünglings mit den strähnigen schwarzen Haaren in ihren Armen war noch widerlicher.
Der Magus lag mit dem Kopf in ihrem Schoß. Sein Gesichtsausdruck verriet eine Zufriedenheit, als wäre er ein Säugling, der gerade gestillt worden war. Und als wollte sie ein Kind trösten, strich die weibliche Kreatur mit Fingern, zwischen denen Schwimmhäute schimmerten, durch sein Haar. Mit ihren blauen Lippen summte sie ein unirdisches Lied, das über das Meer und über den Jüngling strich und beide in eine komatöse Ruhe versetzte.
Was jedoch die See beruhigen mochte, konnte das Blut eines Rhega nicht abkühlen. Sie versuchte, ihn taub zu singen; seine Ohrlappen zuckten. Sie versuchte, seine Augen mit ihrem Gesang zu schließen; sie weiteten sich. Sie versuchte, ihm seine Blutrunst zu nehmen; er schwor, sich mit seinen Klauen auf sie zu stürzen.
Das Schicksal des Jünglings war bedeutungslos. Ob sie seinen durch Zauberei atmenden Körper oder seinen verzauberten Leichnam hielt, sie selbst würde sich in einem viel tieferen Schlaf wiederfinden als dem, in den sie ihn versetzt hatte.
Gariaths Schwingen entfalteten sich wie rote Segel. Er ballte so fest die Fäuste, dass seine Handflächen bluteten. Sein furchterregendes Gebrüll zerfetzte ihr schwächliches Lied in
der Luft. Erneut sank er auf alle viere und griff an. Er zielte mit seinem Horn auf ihren zierlichen, herzförmigen Mund.
Es würde sich gut anfühlen, wieder zu töten.
Lenk taumelte, als er über eine Baumwurzel stolperte und feuchte Erde und Blätter aufwirbelte. Er seufzte und blickte auf den Boden. Der ohnehin schon bescheidene Pfad war jetzt nur noch ein Durcheinander aus Schmutz und Wurzeln. Falls überhaupt je ein Pfad da gewesen ist, dachte er entmutigt. Wie Kataria sich so leicht zurechtfand, würde er niemals verstehen.
Was zu einer anderen Frage führte …
»Wieso gehst du nicht vor?«, warf er über die Schulter zurück.
Die Shict schrak beim Klang seiner Stimme zusammen, so wie sie in der letzten halben Stunde bei jedem Niesen, jedem Husten und jedem Fluch zusammengefahren war, der ihm über die Lippen gekommen war. Sie fasste sich jedoch rasch wieder und trat grundlos noch einen Schritt zurück, was den Abstand zu ihm noch vergrößerte.
»Das ist eine gute Übung«, antwortete sie rasch. »Du musst so etwas lernen, wenn du überleben willst.«
»Nicht, solange du bei mir bist.«
»Vielleicht bin ich ja nicht immer da!«, fuhr sie ihn an.
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