Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
in die zwei Vertiefungen der Schale. Dann schmierte sie mit der Hand feuchten Sand vom Waldboden über die Kokosnuss.
Im Lichte der Sonne sahen die Borsten jetzt einigermaßen silbern aus, aber irgendetwas fehlte noch. Sie summte nachdenklich, hob dann ihr Messer, ritzte einige Furchen über die improvisierten Augenlöcher und gab ihr mit einer langen, gezackten Furche darunter den letzten Schliff.
»So«, flüsterte sie und lächelte, als das haarige Kokosnussgesicht sie mürrisch anglotzte. »Sieht genau aus wie er.«
Dann ging sie zu einem Baumstumpf, der vor einem großen Baum stand, und stellte den Kopf darauf. Sie entfernte sich rückwärts, als hätte sie Angst, dass die Nuss flüchten könnte, wenn sie sich herumdrehte, und griff nach Bogen und Köcher. In einem Atemzug hatte sie einen Pfeil herausgezogen und ihn auf die Sehne gelegt. Die Sehne zitterte, als sie sie spannte.
Die Kokosnuss sah sie einfach nur weiter finster an. Auf ihrer grimmigen, haarigen Visage war keine Spur von Furcht zu erkennen. Ganz genau wie er, dachte sie. Perfekt.
Der Bogen summte, und der Pfeil pfiff durch die Luft. Das Geräusch endete in einem lauten Splittern von Holz und dem Gurgeln einer zähen Flüssigkeit, die in den Sand rann. Der Pfeil hatte das rechte Auge des Kokosnussgesichtes durchbohrt und die Nuss an den Baumstamm dahinter genagelt, wo sie jetzt am Schaft des Pfeils herunterbaumelte. Die Miene des improvisierten Schädels veränderte
sich nicht, als die zähe Milch aus dem Hinterkopf über seine schmutzigen Borsten rann und auf die Erde tropfte.
Die Shict grinste boshaft, als sie zu ihrem aufgespießten Opfer ging, sich vorbeugte und ihr Werk betrachtete. Sie musterte den gleichmäßigen Riss im Auge der Nuss und nickte erfreut.
»Ich könnte ihn immer noch umbringen«, versicherte sie sich. »Ich könnte es schaffen.«
Er war das eigentliche Problem, das wusste sie. Er war der Einzige, den zu töten ihr schwerfiel. Die anderen waren nur Hindernisse, die sie wegräumen musste: flüchtige Hasen in einem Dickicht. Er dagegen war der Wolf, die gefährliche Beute. Aber auch das spielte keine Rolle mehr. Sie konnte ihn töten, das wusste sie jetzt, und die anderen würden ihm sehr schnell folgen.
Kataria riss den Pfeil aus der Kokosnuss und ließ sie zu Boden fallen. Sie wischte die Spitze an ihrer Hose ab, schob ihn dann in ihren Köcher zurück und wandte sich zum Gehen. Sie hatte kaum drei Schritte gemacht, als ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Die Nuss starrte erbost hinter ihr, das wusste sie. Sie verlangte eine Erklärung.
»Also gut, hör zu.« Seufzend drehte sie sich um. »Das hier ist nicht persönlich gemeint. Ich meine, ich hasse dich nicht oder so.«
Die Kokosnuss war offenbar nicht überzeugt.
»Du musst doch gewusst haben, dass so etwas passieren würde, oder nicht?« Sie kratzte sich den Hinterkopf und blickte zu Boden. »Wie sonst hätte es enden sollen, Lenk? Ich meine, wir sind … ich bin eine Shict. Du bist ein Mensch.« Sie knurrte und setzte eine mürrische Miene auf. »Nein, du bist eine Plage. Du bist ein Teil der menschlichen Plage! Es ist unsere Aufgabe, euch zu vernichten, bevor euch der Teil der Welt, den ihr bereits verseucht habt, nicht mehr genügt und ihr den Rest auch noch infiziert!«
Die Kokosnuss schien ihre Gefühle nicht zu teilen. Als Kataria
sich auf den Hintern fallen ließ, stellte sie fest, dass sie ebenfalls nicht wirklich so empfand.
»Wir hatten viel Spaß zusammen, oder?«, fragte sie die Nuss. »Ich hatte jedenfalls Spaß. Nach einem Jahr in deiner Gegenwart bin ich immer noch nicht infiziert.« Sie seufzte und rieb sich die Augen. »Das stimmt nicht. Ich bin infiziert. Deshalb musste ich das tun, was ich gemacht habe … entschuldige, was ich tun muss, wenn ich es tun werde.«
Sie ersparte es sich, der Kokosnuss auch alles andere zu erklären. Wie sollte Lenk das auch verstehen?, fragte sie sich. Menschen verstanden das Heulen nicht, hörten es nicht einmal und konnten erst recht nicht begreifen, was es bedeutete, es nach einem Jahr des Schweigens wieder zu hören.
Aber Kataria hörte es.
Sie hatte es gehört, in flüchtigen Echos, während ihres Kampfes mit Xhai. In diesem Moment hatte sie es gespürt, all das, was es ausmachte, eine Shict zu sein. Sie hörte alle Stimmen ihres Volkes, ihrer Vorfahren, ihrer Stammesgefährten.
»Mein Vater«, flüsterte sie.
Stumm hob sie die Hand und fuhr mit einem Finger über die Kerben in ihren
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