Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
ohne auf die anderen hinter sich oder auf die Beute zu achten, die außerhalb ihrer Reichweite auf den Planken lag. Wie eine Einheit aus teigiger Haut und dürren Beinen fielen sie auf die Knie und pressten die Stirnen auf das salzige Deck.
Alle, bis auf eine.
»Sprecht nicht in der Gegenwart des Hirten!«, stieß die Muschelbläser-Kreatur hervor, den Blick fest auf Lenk gerichtet. »Wagt nicht, euch zu rühren, hütet euch vor unreinen Gedanken. Gebt euch zufrieden der Erlösung hin.« Ihre Finger zitterten, als sie die Hand ausstreckte. »Denn das da hat viel Reinheit gesehen.«
Das Schiff neigte sich noch weiter zur Seite. Die Männer wichen zurück, während sie gleichzeitig versuchten, von der Reling wegzukommen und auf den Beinen zu bleiben.
Und dann war alles still; es gab kein Geräusch und keine Bewegung mehr, bis auf das Ächzen des Holzes und das Abflauen des Windes.
Den Seeleuten blieben die Schreie im Hals stecken, die Hände, welche die Waffen hielten, zitterten, und starre Blicke richteten sich wie gebannt auf den Rand des Schiffes, über den sich ein riesiges, mit Schwimmhäuten versehenes Glied schob, das in gebogenen Klauen endete und die Farbe von Schatten hatte. Es umklammerte die Reling. Das Holz zersplitterte unter der Kraft seines Griffes und drohte vollends nachzugeben, als sich der hagere Arm, dessen Haut sich grauenvoll dehnte, anspannte.
»Süßer Khetashe«, flüsterte Lenk atemlos.
Mit einem kraftvollen Ruck des klauenbewehrten Gliedes
zog die Kreatur ihren Leib über die Reling, und das ängstliche Entsetzen der Seeleute schlug in blanke Panik um, als eine riesige Monstrosität mit so viel Wucht auf dem Deck landete, dass die Planken unter ihren breiten, froschartigen Füßen splitterten.
Das Wesen war mehr als drei Meter groß. Neben seiner ebenholzschwarzen ausgemergelten Gestalt wirkten alle anderen an Deck winzig. An dem langen Torso saßen zwei Arme und zwei Beine, die länger waren als Speere. Sie wiesen jeweils vier Gelenke auf und endeten in großen, mit Schwimmhäuten besetzten Klauen.
Doch diese unterernährte, abscheuliche Schreckensgestalt war nichts im Vergleich zu dem monumentalen Ding, das ihren langen Hals krönte. Es war beinahe so groß wie ihr Torso und ähnelte dem Kopf eines verfaulten Fisches. Die Monstrosität betrachtete die Mannschaft mit riesigen, starren Augen: eisige weiße Becken, die von großen schwarzen Flecken durchsetzt waren. Ihr breites, mit Zähnen gespicktes Maul schien ihr Gesicht in die Breite zu ziehen, und ihr Unterkiefer hing schlaff herunter. Mehr als ein Mann auf Deck erbrach sich, schreckte voller Entsetzen zurück oder fügte eine gelbliche Pfütze zu der ohnehin schon grässlichen Farbe auf den Planken hinzu, als die Kreatur das Maul öffnete und sprach.
»Wo liegt die Erlösung?« Ihre Stimme war melodiös, gurgelnd und vielstimmig, als würden dreiunddreißig Ertrinkende gleichzeitig sprechen. »Wo kann sie sein?«
»Da, Hirte!«
Lenk sah die Finger, kleine, bleiche Finger, die auf das Deck direkt vor seinen Füßen deuteten. Er sah einen Moment auf die Fibel hinunter, die in einem trockenen Fleck mitten in einem See aus Blut und Salzwasser lag. Doch er richtete seine Aufmerksamkeit sofort wieder nach vorne, als er spürte, wie die Planken unter seinen Füßen vibrierten.
Die Monstrosität näherte sich ihm ungelenk und gelassen. Er sah, wie sich jede Kralle in das Holz grub, wenn sie einen
Fuß aufsetzte, sah, wie sich das Wasser an ihre schwarzen Sohlen saugte, wenn sie einen Fuß hob.
Ist sich dieses Wesen der Furcht gewahr, die es hervorruft?, fragte sich Lenk. Weiß es, dass hier noch vor wenigen Momenten Blut vergossen wurde und so viele Männer gestorben sind? Und … war sich dessen überhaupt noch jemand bewusst? Er spürte die vor Entsetzen erstarrten Gestalten hinter sich, die Bewegung der Luft, als sie begannen zu zittern, spürte den Hauch ihrer wimmernden Gebete.
Und, fragte er sich, sind sie sich meiner bewusst, oder sehen sie nur einen winzigen silbernen Umriss vor einem riesigen, düsteren Monstrum?
»Die Fibel!« Mirons Schrei verklang, schien von dem entsetzten Schweigen gedämpft zu werden. »Rettet die Fibel!«
Bis Lenk realisierte, dass es noch eine Welt jenseits der Kreatur gab, die vor ihm auftauchte, ruhte die Fibel bereits in einer mit Schwimmhäuten versehenen Klaue und wurde von ausdruckslosen Augen betrachtet. Sie blinzelten nicht, und die Monstrosität verzog keine Miene; was auch immer sie
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