Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
der sich die Worte in seine Augen einbrannten.
Ihm war nicht einmal bewusst, dass er nicht mehr atmete.
Die Seiten blätterten sich weiter um, immer schneller. Worte verschwanden, verschwammen zu Abbildern, Symbolen, Bildern, die zunächst noch entzifferbar waren: gequälte Menschen, Wesen mit Hörnern, Klauen, gefiederte Kreaturen. Dann verschwammen auch sie und wurden zu schwarzen Linien, die sich zu Formen bildeten, welche nach
ihm griffen, nach ihm schlugen, versuchten, ihm mit ihren Tintenfingern die Augen auszukratzen.
Hinter ihm schrie jemand, befahl ihm, das Buch hinzulegen, aber er konnte seine Hand nicht dazu bringen, es zu tun. Als die Linien immer weniger Sinn ergaben, boshaft durch seinen Verstand zuckten, begannen die Striche, Gestalt anzunehmen. Er zwinkerte, und mit jedem Augenblick wurde die Gestalt deutlicher. Es war schrecklich, aber dennoch konnte er den Kopf nicht abwenden oder auch nur die Augen schließen. Er musste einfach hinstarren.
Das Buch sah ihn an.
Das Buch lächelte.
»Nein !«
Das Buch schlug zu. Seine Finger verkrampften sich unwillkürlich darum, als das eisige Geheul durch seinen Schädel hallte, ihn mit einem vokalen Raureif überzog. Da ließ er es endlich fallen und sah zu, wie es platschend in eine rosafarbene Pfütze fiel. Doch es sammelte sich keine Flüssigkeit darunter.
»Etwas« , stieß die Stimme in seinem Kopf hervor, »kommt.«
Noch bevor Lenk einen klaren Gedanken fassen konnte, ertönte ein lautes Heulen. Bei dem Lärm hob er den Kopf, und sein Blick fiel auf die bleichen Gestalten, die sich an der Reling zusammenscharten. Über ihnen balancierte auf dem Rand des Schiffes die größte der Kreaturen, die ein Muschelhorn an die Lippen setzte. Ihre Brust weitete sich, als sie Luft holte, und fiel zusammen, als sie in die Muschel blies und einen klagenden Ton erzeugte.
Hinter ihm erhoben sich Stimmen, die Warnungen riefen wegen des Himmels. Lenk sah es ebenfalls: Die Wolken bewegten sich plötzlich rascher, veränderten sich, wurden größer und schimmerten in Dutzenden von Facetten, als sie in großen Fetzen herabsanken.
Es sah aus, als würde der Himmel herabstürzen.
Sie sanken in einer unheilvollen Einheit herunter, in einer Schar aus wütend rauschenden Federn und riesigen blauen
Augen, landeten auf den Masten, der Takelage und der Reling der Gischtbraut. Lenk beobachtete sie, fasziniert von der Harmonie ihrer Bewegungen, mit der sie landeten. Plumpe, mit Federn bedeckte Körper, schlaffe, fleischige Gesichter, die von zwei riesigen blauen Augen beherrscht wurden.
Wie viele waren es? Er ahnte es nicht; ihre Zahl schien endlos zu sein, Reihen von flügelschlagenden, gurrenden Vögeln. Möwen? Nein, sagte sich Lenk, Möwen sitzen nicht einfach da und glotzen einen mit starren Augen an. Und außerdem sammelten sich Möwen auch nicht in so großer Zahl.
Zudem hatten Möwen keine langen, nadelscharfen Zähne anstelle von Schnäbeln.
Was also sind das für Vögel?, fragte er sich.
»Boten.« Mirons verächtliche Bemerkung beantwortete die Frage. »Das Buch, Lenk! Nehmt das Buch und beschützt es vor diesen Monstrositäten!«
»Was machen die Herrschaften da?«, brüllte Rashodd über das Deck, während er auf den Planken mit Gariath rang. »Euer Meister braucht Hilfe!«
»Die hier brauchen den da nicht mehr«, erwiderte die Kreatur mit dem Muschelhorn und deutete mit einem Finger auf den Klippenaffen. »Die hier haben die Fibel gefunden, die sie suchen.«
»Welche Fibel?« Der Kapitän verlor jetzt vollkommen die Fassung. »Ich habe euch nicht befohlen, irgendeine Fibel zu erbeuten!«
»Nein, der da hat das nicht getan«, antwortete das Froschwesen und sah den Piratenkapitän finster an. »Aber der da ist auch nicht der Meister von dem hier.«
»Was zum Teufel willst du damit …?«
Noch bevor Rashodd seiner Wut Ausdruck verleihen konnte, erbebten die Planken des Schiffes plötzlich unter mächtigen Stößen. Erneut brandeten erschreckte Rufe auf, und die Seeleute umklammerten ihre Waffen fester, während sie sich verwirrt umsahen.
Irgendetwas hatte soeben das Schiff gerammt.
Die Planken an der Wasserlinie ächzten Unheil verkündend, das Deck erzitterte noch einmal und neigte sich zur Seite. Piraten und Seeleute kämpften um ihr Gleichgewicht. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis erneut das Splittern von Holz ertönte, begleitet von weiterem Ächzen, als etwas aus der Tiefe am Rumpf emporkletterte.
Die bleichen Kreaturen wirbelten herum,
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