Die Tore zur Unterwelt 1 - Das Buch des Dämons: Roman (German Edition)
in Lenk sah, er konnte es ihrem Gesicht nicht entnehmen.
»Ist es versucht? Ist es neidisch?« Die Monstrosität war unfähig, sanft zu sprechen. Ihre Stimme stieg aus ihrer schwammigen Kehle empor wie Galle. »Neugierig … und auch neidisch. Die Versuchung ist groß, einen Blick hineinzuwerfen und über die Erlösung nachzusinnen, die zwischen den von Menschenhand geschaffenen Buchdeckeln liegt.«
»Die Versuchung ist groß«, sangen die plumpen gefiederten Kreaturen in schrecklichem Gleichklang. »Das Fleisch ist schwach. Rettung liegt in der Erlösung. Die Erlösung liegt im Hirten.«
Die schwarze Kreatur beugte sich hinab und sah Lenk direkt in die Augen.
»Und doch … kündet es nicht von mehr Glauben, den Blick sittsam zu senken und den Geist rein zu halten?«
»Tugend führt ins endlose Blau«, sang der Chor über ihnen. »Gebenedeit ist der reine Geist.«
Die Kreatur streckte den Arm aus, ohne sich aufzurichten, und berührte das Deck, während Lenk sich nicht rührte. Sie griff über ihn hinweg, und er hörte ihre Gelenke ploppen. Die Warnrufe hinter ihm waren verstummt; nichts war zu hören bis auf die Bewegungen der Kreatur, als sie den seidenen Beutel von dem nassen Deck hob.
»Das ist er«, fuhr sie fort, während sie ihren riesigen Arm zurückzog, »denn es gibt nichts ohne Glauben, es gibt keine Hoffnung ohne Tugend.« Wie ein großer knochiger Kran drehte die Kreatur ihre Klaue und ließ die Fibel in den Seidenbeutel fallen. »Und eine so große Schönheit darf nur ebenso schönen Augen vorbehalten sein.«
Lenk hatte die bleiche Kreatur nicht bemerkt, die neben die Monstrosität getreten war und jetzt mit eifrig ausgestreckten Händen die Fibel entgegennahm.
»Ist es nicht so?« Die Monstrosität wartete weder auf eine Antwort von Lenk oder ihrem Handlanger, noch beantwortete sie die Frage selbst. Ohne sich zu rühren gab sie dem bleichen Froschwesen neben sich einen Befehl. »Geh!«, gurgelte sie.
»Narren!«, schrie Miron, aber keiner schien ihn zu hören. Niemand registrierte, wie sich die Froschwesen zurückzogen, sich aus ihrer knienden Position aufrichteten, über die Reling sprangen und mit dumpfem Platschen im Wasser landeten.
Niemand sah irgendetwas außer dieser schwarzen Gestalt, die mitten auf dem Deck stand.
»Es gibt kein Entrinnen vor dem Neid«, gurgelte die Kreatur und starrte auf Lenk herunter. »Wie niederträchtig eine solche Empfindung sich auch anfühlen mag. Aber sie zu tolerieren … sie zu empfinden und sie zu hegen, das ist in den Augen von Mutter unentschuldbar.«
»Beweg dich!«
Lenk wünschte, er könnte sich rühren; die Stimme war so
fern, ging in dem Gurgeln der Monstrosität unter. Er war gefangen zwischen dem Frost in sich und dem Schatten vor sich, erstarrt, nahm die glitzernde schwarze Klaue nicht wahr, die heruntergriff, als wollte sie eine Blume pflücken.
»BEWEG DICH!«
»Verstehe es«, gurgelte die Kreatur. »Es ist einfach so, wie es sein muss.«
»Wie es enden muss«, stimmte der Chor nickend zu.
Als die schwarze Klaue sein ganzes Blickfeld ausfüllte, spürte er es. Ein Brüllen zerriss die Stille, peitschte durch die Luft, durchdrang Lenk. Die Klaue der Kreatur zitterte kurz, dann wurde die Schwärze vor Lenks Augen plötzlich von einem grellroten Blitz durchbrochen, und das erstickende Echo der monströsen Stimme wurde von Donner vertrieben.
Gariath rammte die Monstrosität mit der Wucht eines Mauerbrechers; seine flatternden Schwingen beschleunigten seinen Schwung, als er seinen gehörnten Schädel in den Brustkasten der Kreatur rammte. Sie stolperte, stürzte jedoch nicht. Sie gurgelte, ohne zu schreien. Tiefe Wunden klafften in ihrem Brustkorb, als sie einen Schritt zurücktaumelte, aber sie blutete nicht.
Es blutet nicht.
Lenk wurde jedoch sogleich daran erinnert, dass er durchaus blutete, als die harten Knöchel des Drachenmannes auf seiner Wange landeten. Was auch immer in ihm nachklang, wurde von Wut verdrängt, als er sich mit blutiger Schnauze umdrehte und seinen Gefährten finster ansah.
»Was sollte das denn?«
»Wollte mich nur vergewissern«, grollte der Drachenmann.
Lenk blinzelte, als ein Tropfen rötlichen Schleims von seiner Wange glitt.
»Wovon?«
»Pah.« Gariath zuckte mit den Schultern. »Ich glaube kaum, dass ich das erklären muss.« Er hob seine von Narben
übersäte Hand, um jedem Protest zuvorzukommen. »Wenn du dich dann besser fühlst … ich wollte nur wissen, ob du zu sehr damit beschäftigt
Weitere Kostenlose Bücher