Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)
aus ungerechtfertigter Knechtschaft befreit werden, umso besser.«
»Besser«, schnatterten die Herolde. »Die Söhne brauchen einen Vater. Die Gläubigen brauchen einen Anführer.«
Unter den Wogen bewegte sich etwas zustimmend.
Er sah, wie sich dort unten die schimmernden Blicke von Tausenden von Gläubigen wie ein einziger auf die Stadt richteten, als hätte etwas in einem gewaltigen, hallenden Ruf zu ihnen gesprochen. Unter ihnen regte sich die Dunkelheit, dort, wo das Licht sie nicht zu berühren wagte, und er sah die Blicke der großen weißen Augen der emporsteigenden Hirten, die sich dem Ziel der allgemeinen Aufmerksamkeit anschlossen.
Es ärgerte ihn, dass er nicht zu hören vermochte, was sie hören konnten, dass er nicht sah, was sie sahen. In ihren Augen erhob sich vor ihnen ein Gefängnis, ein ungerechtes und tödliches Verlies aus Stein und Wind, in dem die Erlösung lag, die er nicht für sich beanspruchen konnte. Alles, was er sah, waren die Lügen und der Hass, die ihn überhaupt in die Tiefe getrieben hatten.
Was sie hörten, nahm er nur ganz schwach wahr. Doch trotz der großen Entfernung, durch das Rauschen der Wellen
und unter dem Murmeln des Windes, hörte er es. Langsam, gleichmäßig, mit einer Geduld, die Berge und Erde überdauert hatte, dröhnte es, wie kleine Hände, die an eine große Tür hämmerten.
Der Schlag eines einzelnen Herzens.
Wahrscheinlich, und der Gedanke betrübte ihn, sollte er dankbar sein, dass er der Gnade teilhaftig wurde, auch nur das wahrzunehmen. Seine Augen brannten vor Neid, als er sich vorstellte, was die Gemeinde wohl hören mochte, welchen Segen dies einem Verstand bereitete, der bar jeglicher Erinnerung und Lügen war.
»Ungeduld ist nicht die Aufgabe, für die Sie dich auserwählt hat«, sagte der Prophet kalt, als könnte er seine Gedanken wittern.
»Manchmal scheint mir der Grund für meine Berufung verborgen«, erwiderte er ebenso brüsk.
»Ist Hingabe nicht mehr Grund genug?«, wollte der Prophet wissen.
»Erinnere dich an den Mahlstrom«, schnatterte der Chor der Herolde. »Er ist ...«
»Ich kann nicht allein von Metaphern leben!«, schnarrte Mund plötzlich, dessen Geduld von einer Woge der Trauer hinweggespült wurde. »Worte vermögen nicht die Erinnerungen zu vertreiben, mich vergessen zu machen, dass ich es bin, dem die Gaben der Abgründigen Mutter verweigert werden, die selbst weit weniger Gläubigen versprochen wurden!«
»Schon bald!«, schnatterten die Herolde protestierend. »Schon bald wird es ...«
»Wird was?« Seine Enttäuschung ließ ihn Worte sagen, die er nicht hätte aussprechen sollen, verliehen einem Willen Kraft, der, wie ihm klar war, Sünde war. »Alle eure Versprechungen, all eure großen Pläne haben uns nichts eingebracht! Die Fibel ist verloren, die Langgesichter schlagen die Gläubigen immer und immer wieder zurück, schänden sogar die Hirten mit ihrem bösartigen Gift! Und jetzt, während sie wie
landgeborene Hunde die Fibel aufspüren, sitzt ihr hier und befehlt mir, in eben die Stadt zurückzukehren, von der ich mich befreit habe, als ich zu euch gekommen bin?«
Er holte scharf Luft, doch noch war der salzlose Geschmack nicht widerlich auf seinen Lippen. Er kniff Augen zusammen, die noch nicht schimmerten, ballte Fäuste, die keine Schwimmhäute aufwiesen, als schwache sündige Erinnerungen in sein Bewusstsein strömten.
»Gelegentlich, Prophet«, zischte der Mann, »sind Stürme und Mauern aus Wasser nichts weiter als Wind und Wellen, von denen keines Substanz hat.«
Er wusste, dass er keine Befriedigung empfinden sollte. Immerhin war es wie jedes Gefühl, das nicht unerschütterliche Hingabe war, eine Sünde, und er wappnete sich mit dem Wissen, dass sie bestraft würde. Er stellte sich vor, wie er von dem Schrei des Propheten in Stücke gerissen würde, von demselben klagenden Ruf, der die Ungläubigen und Häretiker vernichtete, welche den Gläubigen im Weg standen.
Vielleicht, dachte er, ist das die einzige Möglichkeit für mich, die Harmonie in seinen Worten zu vernehmen.
Der Prophet umkreiste schweigend den Felsbrocken. Das unablässige Schnattern der Herolde war verstummt; sie drehten vor Neugier ihre Köpfe so weit, bis sie fast richtig herum auf ihren Hälsen saßen. Die goldenen Augen unter ihm waren dunkel. Die Gemeinde war still, verharrte reglos im Wasser. Selbst die weißen Augen der Hirten waren verschwunden, als fürchteten sie den Zorn, der den ehemaligen Prediger, Ulbecetonths
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