Die Tore zur Unterwelt 2 - Dunkler Ruhm: Roman (German Edition)

während sie leise weiterkroch.
     
    Fährten erzählen Geschichten.
    Das war eine akzeptierte Wahrheit bei ihrem Volk. Eine Person sprach mit ihren Füßen zu der Erde, unfähig, mit ihren Sohlen zu lügen oder etwas zu verbergen. Die Erde hatte ein langes Gedächtnis und erinnerte sich an alles, was ihr erzählt wurde. Die Erde erinnerte sich. Die Erde erzählte es den Shict. Die Shict erinnerten sich.
    Kataria erinnerte sich daran, wie sie seine Spuren im Wald gefunden hatte, vor fast einem Jahr.
    Lange, gemächliche Schritte, dachte sie, mit dem Gewicht sowohl auf den Fersen als auch auf den Zehen. Ein Mann, der gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen zu gehen schien; er bemühte sich, vorwärtszugehen und hielt sich dennoch immer zurück.
    Sie hatte ihn verfolgt, damals, in der Gewissheit, dass sie
ihn töten würde. So wie sie ihn auch jetzt verfolgte, überzeugt davon, dass sie es tun musste.
    Und was ist diesmal anders?, fragte sie sich. Du hast ihn verfolgt, hast versucht, ihn zu töten. Und am Ende bist du ihm ein jahr lang gefolgt.
    Weil , dachte sie, du damals noch nicht wusstest, wie es ist, eine Shict zu sein. Jetzt jedoch wusste sie es. Und sie würde es beweisen.
    Sie hatte die Spuren der anderen kurz danach gefunden. Die Erde war abwechselnd feucht und trocken, scheinbar unschlüssig, ob sie weiterleben wollte oder nicht. Das erschwerte es Kataria, die Geschichten zu lesen. Es waren einfache Geschichten von Qualen, Schmerz, Elend, Verwirrung und Hunger. All das waren übliche Empfindungen, vor allem bei den Menschen, die sie einst Gefährten genannt hatte.
    Und all das spielte keine Rolle. Sie mussten schließlich doch alle sterben, am Ende. Und die anderen Menschen wären eine gute Übung, bevor sie ihrer eigentlichen Beute folgte und sie tötete. Sie hätte allerdings gern mit Lenk angefangen, weil sie vermutete, dass er am schwierigsten zu töten war. Er war der Wachsamste, Paranoideste, Vorsichtigste.
    Ach, und deshalb ist er so schwer zu töten?, fragte sie sich. Na klar. Er ist ja so erfindungsreich und gerissen. Dieses ganze Herumgeschleiche ist eine Farce. Wenn du vor ihm stehst und ihm zuwinkst, wird er zurückwinken und lächeln und sagen, wie gut es war, dich zu sehen, während du ihm sein Hirn aus dem Schädel geprügelt hast.
    Nein , widersprach sie sich, er mag dich zwar, aber so sehr wahrscheinlich nun auch wieder nicht.
    Genau, stimmte sie sich zu. Aber der entscheidende Punkt ist der, dass du weißt, dass du die ganze Sache nur aufschiebst. Du tust so, als würdest du ihm nachschleichen? Ihm nachspüren? Lauf einfach durch den Wald und schrei seinen Namen, wenn du wirklich glaubst, dass er noch am Leben ist. Warte darauf, dass er herauskommt, dann umarme ihn und brich ihm das Genick. Wenn du ihn wirklich töten wolltest, müsstest du nicht ständig Versuche unternehmen. Aber ...
    Sie fauchte und öffnete die Ohren weit, damit die Geräusche des Waldes ihre Gedanken übertönten.
    Du weißt genau, dass dieser Wald tot ist. Nichts wird dich daran hindern zu denken, Dummkopf.
    Sie seufzte. Aber kein Wind seufzte zurück. Und kein Wind ließ Blätter in den Bäumen rascheln. Und aus den stummen Bäumen schrie kein Tier eine Antwort. Um sie herum gaben das fruchtbare Grün und der blaue Himmel und die helle Morgensonne kein Geräusch von sich, zeigten keinerlei Anzeichen von Leben.
    Tote Wälder waren nichts gänzlich Ungewöhnliches. Nicht essbare und für tierische Mägen unverdauliche Pflanzen gediehen dort, wo Menschen und Tiere nicht leben konnten.
    Außer Kakerlaken offensichtlich. Sie schüttelte eine getrocknete Spur von Kot von ihrer Hand.
    Aber an diesem Wald, an dieser Stille war irgendetwas anders. Das Schweigen hing wie ein Pesthauch zwischen den Bäumen, drang in ihre Haut ein, in ihre Ohren, ihre Lungen. Selbst das Geräusch ihres Atems schien unerträglich zu sein, das Zucken ihrer Muskeln war unglaublich laut. Die Stille versuchte, ihren Magen zusammenzukrampfen, ihr die Luft aus den Lungen zu pressen, selbst das laute Rauschen des Blutes in ihren Adern zum Schweigen zu bringen.
    Sie schüttelte den Kopf, schlug mit der Handwurzel gegen ihre Stirn und schalt sich für ihre Dummheit. Stille war unbehaglich, nichts weiter. Es war keine Seuche. Er war eine Seuche. Er war derjenige, der ausgemerzt werden musste, nicht sie. Er war das Problem.
    Also ist er das Problem, sagte sie sich. Das klingt logisch. Das hat Inqalle gesagt. Die Grünshict ... nein, nein. Sie sind