Die Tortenbäckerin
junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen, schrie alle paar Meter auf. So viele Automobile! Die StraÃenbahnen! Der Lärm! Die vielen Menschen! Völlig verängstigt erreichte sie das Haus der Familie, bei der sie nun die nächsten Jahre verbringen sollte. Es war eine imposante Villa, und die Hausherrin führte das Kommando über ein halbes Dutzend Bedienstete. Die Neue bekam eine zugige Kammer unter dem Dach zugewiesen und konnte sich noch glücklich schätzen. In dieser Villa gab es wenigstens nicht die berüchtigten Hängeböden, wie sie in vornehmen Etagenwohnungen üblich waren: kleine Gelasse, die durch eingezogene Decken über der Küche oder dem Flur entstanden waren. In diesen Löchern schliefen Dienstmädchen unter menschenunwürdigen Verhältnissen.
Noch am selben Tag bekam sie ihr Dienstbuch ausgehändigt, ein kleines schwarzes Heft, in das alle wichtigen Daten eingetragen wurden. Ihr Arbeitsbereich wurde am nächsten Morgen früh um fünf die Küche, wo sie zunächst der Köchin zur Hand ging und im Laufe der Jahre selbst zur Köchin wurde. Es war ein hartes Leben, mit Tagen, die selten vor Mitternacht zu Ende gingen, mit schwerster körperlicher Arbeit in Zeiten, in denen es noch keine elektrischen Küchengeräte gab. Zudem war es ein Leben in der Angst, jederzeit die Stellung zu verlieren.
Dieses vierzehnjährige Mädchen war meine GroÃmutter Martha Semisch, und so wie ihr erging es im DeutschenKaiserreich Tausenden jungen Frauen. Sie stammten aus kinderreichen Familien. Ihre Väter waren Arbeiter, Handwerker oder kleine Händler. Für die Töchter dieser Familien war es erstrebenswert, in einem der groÃen Bürgerhäuser in Dienst zu gehen. Sie träumten von einem Märchenprinzen, den sie bestimmt bald kennenlernen würden, ganz so, wie es in den billigen Kolportageromanen beschrieben wurde. Die wenigsten von ihnen wussten, was wirklich auf sie zukam. Ob Köchin, Stubenmädchen oder Stallbursche â sie alle unterlagen der deutschen Gesindeordnung, die dem Arbeitgeber eine gewisse patriarchalische Allmacht verschaffte. Er war der Hausvater, der Fürsorge und Schutz bot, dafür jedoch unbedingten Gehorsam forderte. Der Dienstbote war das unmündige Kind.
Wie schlimm diese Ordnung zum Beispiel für Köchinnen war, wurde klar, wenn sie in Notlagen gerieten. Waren sie länger als vier Wochen krank, wurden sie auf die StraÃe gesetzt. Nicht selten kam es daher vor, dass fiebernde, vor Schüttelfrost zitternde Frauen am Kohleherd standen und Essen zubereiteten. Wurden sie gar schwanger, wie Greta Voss in diesem Roman, konnten sie mit keinerlei Hilfe rechnen. Eine Tändelei mit der drallen Köchin oder dem hübschen Stubenmädchen war in den vornehmen Häusern gang und gäbe, das Einverständnis der jungen Frauen, die manchmal noch halbe Kinder waren, nicht erforderlich.
Viele von ihnen wurden aus Verzweiflung zur Kindsmörderin, starben unter den schmutzigen Händen einer Engelmacherin oder endeten in der Prostitution.
Natürlich gab es auch andere Schicksale. Es gab gütige Hausherren und zufriedene Dienstboten, die dreiÃig, vierzig Jahre in einer Familie blieben, die Kinder ihrer Herrinliebten, als wären es ihre eigenen, und die sich kein anderes Leben wünschten.
Dennoch waren Dienstboten der Willkür ihrer Herrschaft ausgeliefert. Eine soziale Bewegung, wie es sie in Arbeiterkreisen gab, kam aufgrund der Isolation der Dienstboten in den einzelnen Familien nie so recht in Schwung. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich die Situation. Auch für Dienstmädchen und Köchinnen gab es nun andere Erwerbsmöglichkeiten, die wesentlich attraktiver waren. So war die Fabrikarbeit klar geregelt, fand zu festen Zeiten statt und war zudem besser bezahlt. Die dadurch aufkommende Knappheit an Dienstboten verbesserte deren Arbeits- und Lebensbedingungen um einiges. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges endete schlieÃlich das Jahrhundert der Dienstmädchen.
Meiner GroÃmutter Martha Semisch erging es in ihrer Herrschaftsfamilie vergleichsweise gut. Von klein auf daran gewöhnt, Verantwortung zu tragen, wurde sie für ihr Pflichtbewusstsein sehr geschätzt. Sie war intelligent und lernwillig. So wurde sie nicht nur zu einer ausgezeichneten Köchin, sondern erlangte auch Geschick im WeiÃnähen und wäre in der Lage gewesen,
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