Die Tote am Watt: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
doch wissen. Du kennst dich ja aus hinter den Kulissen seines Ladens.«
Aber Mamma Carlotta nahm sich nicht die Zeit für Gewissensqualen. Sie überhörte Eriks Anspielung mit einem eleganten Wimpernschlag, der nur unwesentlich länger war als ein normaler. »Hatte er Gelegenheit, nach Hause zu fahren und das Geld zu holen?«, fragte sie. »Nach meinem Sturz in die Kiesgrube ist doch eine ganze Weile vergangen, bis du Alarm auslösen konntest.« Ihre Stimme war jetzt so atemlos, als wären ihre Gedanken gerannt und gehetzt.
»Du meinst, Andresen hat diese Zeit genutzt, um das Geld zu holen?« Erik bemühte sich, kühl zu reagieren und seine Schwiegermutter nicht merken zu lassen, was er von ihren Anmerkungen hielt. »Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Wir lassen deshalb vor allem den Flughafen kontrollieren. Vermutlich wird Andresen versuchen, einen Piloten zu finden, der ihn für viel Geld ins Ausland fliegt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Mamma Carlotta. »Ich denke, dass er das Geld geholt hat, um es für den Zweck auszugeben, für den es bestimmt war. Dies ist seine letzte Chance, Saskia nach Boston zu bringen. Er wird es versuchen, auch wenn die Ärzte ihm gesagt haben, dass er damit noch warten soll. Aber jetzt kann er nicht mehr warten.« Sie warf einen langen Blick zum Fenster. »Ich wette, er wird Saskia in der Nacht holen.« Plötzlich wirkte Mamma Carlotta sehr aufgeregt. So, als hätte sie das Tollkühne ihrer Gedanken erst erkannt, als sie sie aussprach. »Wir müssen in der Nähe der Kinderstation bleiben, Enrico. Du wirst sehen, Andresen wird dort erscheinen und …« Ihre Hochstimmung fiel plötzlich in sich zusammen, sie biss sich auf die Lippen. »Das Geld gehört nun ja wohl der Schwester von Christa Kern«, ergänzte sie leise. »Glaubst du, dass sie darauf verzichtet, damit Saskia operiert werden kann?«
Erik dachte an Bernadette Frenzel und glaubte es nicht. Doch er nickte und sagte: »Schon möglich.« Dann erhob er sich und griff nach Mamma Carlottas Arm. »Ich bringe dich jetzt in dein Zimmer. Dann gehe ich zur Kinderstation und rede dort mit dem Dienst habenden Arzt. Saskia muss in der Nacht unter ständiger Aufsicht sein.«
Mamma Carlotta machte sich von ihm frei. »Ich komme natürlich mit. Was glaubst du, warum ich über Nacht hierbleibe?«
»Weil die Ärzte dich unter Beobachtung halten wollen. Der Sturz in die Kiesgrube, deine kurze Bewusstlosigkeit …«
»Sciocchezze! Mir geht’s gut. Die blauen Flecken heilen von selbst. Ich bin natürlich nur hiergeblieben, damit ich ein Auge auf Saskia haben kann.« Sie knotete den Gürtel des Bademantels enger und sah so entschlossen aus, als trüge sie eine schusssichere Weste. »Avanti, Enrico! Wir beziehen Posten vor Saskias Zimmer.«
»Nun mal langsam!« Erik wusste eigentlich, dass solche Beschwichtigungen bei Mamma Carlotta nicht fruchteten, schlimmstenfalls sogar das Gegenteil bewirkten. So zuckte er auch nur resigniert mit den Schultern, als sie energisch den Kopf schüttelte.
»Langsam? No, presto!« Mamma Carlotta marschierte Erik voran. »Ich weiß, wo die Kinderstation ist. Du musst mir nur folgen.« Am Ende des Ganges blieb sie stehen und sah ihrem Schwiegersohn ungeduldig entgegen. »Avanti, avanti!«
Erik fragte sich, ob er in gut zwanzig Jahren nach einem Sturz in eine Kiesgrube wohl auch noch derart hurtig auf den Beinen sein würde. Er schob die Frage beiseite, weil er wusste, dass ihm die Antwort nicht behagen würde.
Die Kinderärztin schüttelte den Kopf, als sie nach Saskia Andresen gefragt wurde. »Sie können nicht zu dem Kind. Es geht der Kleinen schlecht. Sehr schlecht.«
»Sie vermisst ihre Mutter, vero?« Mamma Carlotta fuhr sich über die Augen. »Und jetzt noch der Vater …«
»Was ist mit dem Vater?«, fragte die Ärztin.
Erik erklärte ihr, warum er es für wichtig hielt, dass Saskia rund um die Uhr bewacht wurde. »Es kann sein, dass Wolf Andresen versucht, das Kind aus der Klinik zu holen.«
Das Kopfschütteln schien zum Beruf der Kinderärztin zu gehören. »Das ist ausgeschlossen! Es wäre entsetzlich, wenn er es versuchte. Saskia würde einen Transport nicht überleben. Sie reagiert auf jede körperliche und seelische Erschütterung mit Krämpfen und Atemnot. An eine Operation ist zurzeit gar nicht zu denken. Und wenn ich ehrlich sein soll – ich glaube nicht, dass es jemals dazu kommen wird …«
Ein Schrei schnitt ihr das Wort ab. Die Tür sprang auf, eine Krankenschwester rief
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