Die Tote am Watt
öffnete. Sie begann direkt hinter dem breiten Sandstrand, dessen Ende weder links noch rechts zu erkennen war. Diese neue Welt war das Meer, das sich dem Land anbot und wieder entzog, anbot und wieder entzog. Schreiende Möwen legten sich auf den Wind, schwebten der unaufhörlichen Wiederkehr entgegen und mit ihr zurück.
Mamma Carlotta konnte sich nicht sattsehen an dieser neuen Welt. Ehrfürchtig ging sie auf die Treppe zu, als müsste sie erst überlegen, ob sie es überhaupt wagen wollte, sich dem Meer zu nähern.
Sie beobachtete eine Gruppe fröhlicher Menschen, die unten an der Wasserkante entlangwanderten. Manchmal schickte der Wind ein paar Fetzen ihres Gelächters herauf oder einen ausgelassenen Schrei. Sie trugen dicke, wattierte Jacken, Stiefel, Mützen und Handschuhe, ihre Schals flatterten im Wind.
Mamma Carlotta wickelte ihre Strickjacke noch enger um ihren Körper, schlang die Arme darum und machte Anstalten, das Wagnis einzugehen … da wurde sie von einer barschen Stimme zurückgehalten. »Die Kurkarte, bitte!«
Mamma Carlotta stand da wie angenagelt. »Kurkarte? Was soll das sein?«
Der Strandwärter sah sie an, als hielte er sie für eine Schwindlerin, die sich mit gespielter Ahnungslosigkeit Vorteile verschaffen wollte. »Sie meinen, Sie haben noch nie was von der Kurtaxe gehört?«, blaffte er Mamma Carlotta an. »Dann will ich Ihnen mal was sagen …« Der Mann schien selten dazu zu kommen, seinem Beruf Bedeutung zu verleihen. »Glauben Sie, das hier finanziert sich alles von allein?« Er beschrieb mit dem linken Arm einen großen Bogen, der nicht nur den Strand, sondern auch das Meer und den Himmel einschloss. »Der Tourismus bringt nicht nur Geld, er verschlingt auch eine Menge, jawoll. Hunderttausende kostet allein das regelmäßige Reinigen des Strandes, gute Frau! Also dann mal los zur Kurverwaltung! Da können Sie die Kurtaxe bezahlen und kriegen eine Kurkarte. Und dann dürfen Sie hier an den Strand, jawoll.«
Mamma Carlotta erholte sich allmählich von ihrer vorübergehenden Sprachlosigkeit. »Sind Sie ein …« Sie wedelte durch die Luft, als wollte sie das richtige Wort aus den Wolken holen. »… ein moderner Pirat?«, fauchte sie den verdutzten Strandwärter an und wedelte weiter, damit auch die nächsten Vokabeln aus dem Himmel fielen. »Oder ein Strandräuber? Ich habe davon gelesen, dass es früher so etwas gab.« Sie reckte sich zu ihrer vollen Größe empor. »Der Strand gehört allen!«, erklärte sie. »Und außerdem bin ich keine Touristin, sondern zu Besuch bei meiner Familie, die hier wohnt.«
»Und wie heißt diese Familie?«, fragte der Strandwärter misstrauisch.
»Wolf! Der Hauptkommissar Wolf ist mein Schwiegersohn. Und ihm werde ich erzählen, wie ich hier behandelt werde.«
Die Wichtigtuerei des Strandwärters fiel prompt in sich zusammen. »Warum sagen Sie das denn nicht gleich, gute Frau?«
»Signora, per favore.«
»Signora?« Es dauerte eine Weile, aber dann hellte sich die Miene des Strandwärters auf. »Richtig! Der Hauptkommissar war ja mit einer Italienerin verheiratet. Dann sind Sie wohl auch Italienerin?«
»Sì!« Ohne einen Blick zurückzuwerfen, schritt Mamma Carlotta die Treppe hinab.
»Ich heiße Fietje Tiensch«, rief der Strandwärter ihr nach. Er sah Mamma Carlotta so lange hinterher, bis sie am Fuß der Treppe angekommen war und vorsichtig den ersten Schritt in den Sand setzte. »Erik Wolfs Schwiegermutter«, brummte er vor sich hin. »Da wird Tove aber Augen machen.« Er sah auf die Uhr, dann ging er in sein Strandwärterhäuschen und packte seine Sachen zusammen. Mit einer Mütze auf dem Kopf trat er wieder heraus. Was sollte er noch hier? Es waren ja ohnehin kaum Feriengäste da in der Vorsaison.
Er wandte dem Strand gerade in dem Augenblick den Rücken zu, als Mamma Carlotta zurückblickte, um zu sehen, wie hoch die Kliffkante über ihr aufragte. Der dicke Bommel von Fietjes Mütze war verschwunden, als sich aus dem Dünengras, nicht weit entfernt, eine männliche Gestalt löste, eine rote Schirmmütze zurechtrückte und denselben Weg nahm.
Ein Mann, der bei dieser Kälte im Gras gesessen hatte? Mamma Carlotta wandte sich kopfschüttelnd wieder dem Meer zu. Einem, der hier geboren war, hatte der eisige Wind vermutlich schon die Wiege geschaukelt. Er war an die Stürme gewöhnt, schützte sich nicht mehr vor ihnen und setzte sich ins Gras. So wie sich in Umbrien die Touristen gern ins Gras setzten, um sich von der Sonne
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