Die Tote am Watt
wahrscheinlich weil er den ankommenden Reisenden sofort den richtigen Eindruck von Westerland vermitteln wollte: zu groß und hässlich. Ob Westerland wirklich so war, wusste sie noch nicht, aber diese Figuren waren es. Kopfschüttelnd betrachtete sie die umgedrehten Gesichter der kleinen Skulpturen. So was sollte Kunst sein?
Wolf Andresen sah nur kurz auf, als die Türglocke schepperte. »Moin!« Unverzüglich wandte er sich wieder einer älteren Dame zu, deren Wünsche er mit großem Eifer erfüllte. Er schien sie zu kennen. Mamma Carlotta konnte ihrem Gespräch entnehmen, dass die Frau eine Ferienwohnung in Westerland besaß und einen großen Teil des Jahres hier verbrachte.
»Mein Mann hat gesagt: Am ersten Abend auf Sylt will ich eine Makrele von Fisch-Andresen.«
Wolf Andresen lächelte geschmeichelt, dann suchte er die dickste Makrele aus seinem Sortiment aus, während er immer wieder einen unruhigen Blick zu Mamma Carlotta und manchmal zu dem Perlenschnurvorhang warf.
»Haben Sie Aal in Gelee?«, fragte die Kundin.
Andresen bedauerte. »Aber ich könnte Ihnen Aalrauch-Matjes empfehlen. Butterzart!«
»Nein, danke!« Die Kundin zögerte, dann beschloss sie, dass die Makrele ausreichte. Mamma Carlotta war sicher, dass sie später zu Gosch gehen würde, um dort nach Aal in Gelee zu fragen. Und Andresen wusste es genauso gut.
Mamma Carlotta konzentrierte ihr Kaufinteresse auf den Dorsch, weil er im linken Teil der Kühltheke offeriert wurde, ganz in der Nähe der Perlenschnüre.
»Ist der Wolf böse?«, hörte sie eine Kinderstimme fragen.
»Ja, böse, hinterlistig und feige«, antwortete die Mutter. »Am besten, wir haben möglichst wenig mit ihm zu tun.«
Mamma Carlotta lehnte sich an die geflieste Wand, schloss die Augen und griff sich an den Magen. Andresen sah erschrocken auf. Aber erst, als die Makrele exakt in der Mitte des Einwickelpapiers lag, von jedem Papierrand gleich weit entfernt, fragte er: »Ist Ihnen nicht gut?«
Mamma Carlotta nickte und bat mit bebenden Lippen um ein Glas Wasser.
Andresen warf seiner Kundin einen Blick zu, der um Verständnis bitten sollte, dann durchtrennte er die Perlenschnüre.
Dass Mamma Carlotta ihm unverzüglich folgte, merkte er erst, als sie hinter ihm stand. »Vielleicht kann ich mich für einen Moment setzen?«
Andresen gab sich keine Mühe, sein Missfallen zu verbergen, aber er widersprach nicht, als Mamma Carlotta theatralisch schnaufte, sich auf einen Stuhl sinken ließ und mit einer Geste den Handrücken auf die Stirn legte, die manche Operndiva lange üben musste. Sie nahm einen kräftigen Schluck und seufzte auf, um anzuzeigen, wie gut ihr die Erfrischung tat.
»Geh ruhig wieder in den Laden«, sagte die Frauenstimme. »Ich kümmere mich schon um sie.«
»Danke, Ulla.« Die Perlenschnüre klingelten, und Mamma Carlotta riskierte einen Blick in die Tiefe des Raumes.
Ulla Andresen erhob sich vom Bett ihres Kindes, kam auf Mamma Carlotta zu und lehnte sich mit dem Rücken an die Spüle. »Geht’s wieder?«
Mamma Carlotta nickte. »Ich komme aus Italia, bin zum ersten Mal auf Sylt. Das Klima scheint mir nicht zu bekommen.« Als Ulla verständnisvoll nickte, wäre sie um ein Haar der Versuchung erlegen, mehr zu erzählen von ihrem Leben in Umbrien, von ihrem verstorbenen Dino, von ihrer Tochter, Gott hab sie selig, ihrem Schwiegersohn und den Enkeln. Aber gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie sich in dieses Zimmer geschmuggelt hatte, weil sie neugierig auf diesen Fischhändler war, der so häufig in das Haus der Toten am Watt gekommen war, und auf seine bedauernswerte Familie.
Sie nippte wieder an ihrem Wasserglas und sah sich unauffällig um, während Ulla Andresen zu ihrem Kind zurückging, das erneut zu wimmern begann. »Gleich lese ich dir wieder vor.«
Das Kind reagierte nicht. Es lag da, atmete hastig und schwer, den Blick unverwandt auf Mamma Carlotta gerichtet. Anscheinend verirrten sich nur selten Besucher hierher. Plötzlich verzog sich das Gesicht des Kindes, und es begann kläglich zu weinen. »Lesen«, schluchzte es.
Ulla Andresen seufzte auf und griff wieder zu dem Märchenbuch, das auf einem Tischchen neben dem Bett lag. »Tut mir leid«, sagte sie zu Mamma Carlotta, »aber immer, wenn es Saskia besonders schlecht geht, ist sie nur durchs Vorlesen zu beruhigen.«
Mamma Carlotta nickte, nippte weiter an ihrem Glas und fragte sich, ob sie um ein zweites würde bitten können, wenn nach dem ersten ihre Neugier noch nicht
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