Die Tote am Watt
Fuß gehen, wenn Sie eingekauft haben«, sagte er. »Ist ja nicht weit bis zum Süder Wung.« Aber dann hob er doch noch ein letztes Mal die Augenbrauen und zerknüllte sein Gesicht zu einem kleinen Lächeln. »Sie können ja mal wieder einen Besuch in Käptens Kajüte machen. Es ist noch genug Rotwein aus Montepulciano da.«
Erik sah auf die Uhr. »Ich habe einen Bärenhunger.«
Sören nickte. »Ich gehe zum Bäcker und hole mir zwei Stücke Hefekuchen.«
Erik lächelte, denn gerade war ihm in den Sinn gekommen, dass er heute an einem gedeckten Tisch erwartet wurde. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Der Vorgeschmack auf Antipasto, Primo piatto, Secondo piatto, Espresso und Dolce. Viel zu viel natürlich! Das hatte er Lucia immer wieder vorgehalten, für die ein Essen aus vier Gängen bestehen musste. Sie beschränkte es höchstens dann auf drei, wenn sie morgens einen Arzttermin hatte oder zum Elternsprechtag musste, und verachtete jede friesische Hausfrau, die ihrer Familie nicht mehr als ein Hauptgericht servierte. Kartoffelsalat und ein gebratenes Fischfilet? »Kein Essen, sondern eine Schikane!«, hörte er Lucia sagen.
Erik nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen einfach rollen, wie so oft, wenn er von einem Ort zum anderen fuhr, neben sich die Mondlandschaft der Dünen und die rostige Heide, über sich den Himmel, der über Sylt größer und weiter war als woanders. Er öffnete das Seitenfenster einen winzigen Spalt, um das kurze, höhnische Lachen der Möwen hereinzulassen, das Wogenrauschen des Meeres, das er mehr ahnte als hörte.
»Den Weg hätten wir uns sparen können«, sagte Sören, und Erik schloss das Fenster wieder. »Heide Pedersen und Bernadette Frenzel wissen entweder wirklich nichts oder wollen nichts verraten. Die Frenzel hat kein Alibi, und das der Pedersen ist nichts wert. Sie hat den Sonnabendnachmittag und den Abend mit ihrem Mann verbracht!« Sören spuckte ein böses Lachen aus. »Die Aussage dieses Tagediebes ist das Papier nicht wert, auf dem wir sie protokollieren müssen.«
»Und der Sohn sagt, er hätte den ganzen Sonnabend auf einem Neubau in der Nachbarschaft gearbeitet. Enno Mierendorf soll das überprüfen.«
Sören nickte. »Aber es ist zu erwarten, dass sich sein Alibi bestätigt.«
»Die Frenzel behauptet, ein Feriengast habe sie gesehen«, ergänzte Erik, »aber der kann sich nicht mehr genau erinnern.« Er schaltete in den fünften Gang. »Ja, die beiden bleiben unsere Hauptverdächtigen.« Er starrte eine Weile auf die Straße, ehe er fortfuhr: »Die Frenzel ist kaltschnäuzig. Und wenn sie hin und wieder so tut, als ginge ihr der Tod ihrer Schwester nahe, kommt sie mir noch kaltschnäuziger vor. Vielleicht wusste sie, dass sie Alleinerbin ist. Womöglich hatte Christa Kern es ihr verraten. Und dann hat die Frenzel beschlossen, dass sie es endlich auch so gut haben will wie ihre Schwester.«
Sören nickte. »Schon möglich. Aber ich tippe auf Heide Pedersen. Dieser Hass auf alle, denen es besser geht! Ihr Mann und ihr Sohn, diese beiden Nichtsnutze, reden ihr mehrmals täglich ein, dass der Reichtum ungerecht verteilt ist. Und dass die Familie Pedersen zu wenig davon abbekommen hat. Heide Pedersen besitzt ja nur das Nötigste, und dafür muss sie schwer arbeiten. Ihr Mann ist ein Großmaul und ihr Sohn ein Faulpelz. Und sie ist die Dumme, die sich von beiden ausnutzen lassen muss. Christa Kern dagegen hat sich den Tag mit dem Lackieren ihrer Fingernägel vertrieben. Glauben Sie nicht, Chef, dass die Pedersen irgendwann diese Ungerechtigkeit nicht mehr ertragen konnte? Vielleicht hat sie mitbekommen, dass die Kern für vierzigtausend Euro ein Bild kaufen wollte. Und dann hat sie …«
»Aber die fremden Fingerabdrücke, die die Spurensicherung an der Geldkassette gefunden hat, stammen nicht von Heide Pedersen.«
»Das beweist nichts. Von Bernadette Frenzel stammen sie ja auch nicht.«
Erik runzelte die Stirn. »Wir müssen ein Auge auf die beiden haben. Sobald eine von ihnen ihre finanziellen Gewohnheiten ändert, ist sie dran.« Er schlug mit der Faust aufs Lenkrad. »Sollten wir nicht auch Wolf Andresens Alibi überprüfen?«
Sören überlegte. »Meinen Sie wirklich, dass er verdächtig ist?«
»Er kannte Christa Kern, er kam gelegentlich in ihr Haus, und es geht ihm finanziell nicht gut.«
»Aber konnte er von den vierzigtausend Euro wissen? Er war doch nur ein Lieferant. Dem wird Christa Kern nichts von dem Geld erzählt
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