Die Tote am Watt
Warum also lässt er sich auf so ein Verlustgeschäft ein?«
»Weil er ein schlechter Geschäftsmann ist«, meldete Enno Mierendorf sich zu Wort. »Er hat es nie geschafft, sich gegen Gosch zu behaupten. Dass er es überhaupt versucht hat, zeigt schon, dass er nichts vom Geschäft versteht.«
»Vergiss nicht seine privaten Probleme«, wandte Rudi Engdahl ein. »Bei den schwierigen häuslichen Verhältnissen ist es nicht leicht, noch Kraft fürs Geschäft aufzubringen.«
Mamma Carlotta hätte sich für ihr Leben gern eingemischt und zu diesem Fall ihre eigenen Erfahrungen mit ihrem Onkel Leonardo beigetragen. Der hatte nämlich ein blühendes Weingut in der Nähe von Perugia geerbt und es innerhalb von zwanzig Jahren heruntergewirtschaftet, weil seine häuslichen Verhältnisse ebenfalls schwierig waren und seine Familie ihn nicht in Ruhe arbeiten ließ. Seine Frau war zunächst kränklich, dann untreu, dann schwanger geworden, und das, obwohl sie sich ihrem Ehemann seit einem Jahr verweigerte. Aber damit noch nicht genug. Der älteste Sohn trank den Wein selbst, statt ihn zu verkaufen, und die einzige Tochter bekam drei uneheliche Kinder, jedes von einem anderen deutschen Touristen. Mamma Carlotta hatte der Madonna gedankt, dass Lucia, obwohl auch sie sich in einen deutschen Touristen verliebt hatte, doch immerhin mit ihm verheiratet war, als sie ihre Kinder bekam. Aber da sie merkte, dass Erik ihre Anwesenheit tatsächlich vergessen hatte, enthielt sie den Polizeibeamten die Erfahrungen Onkel Leonardos vor, der sich irgendwann den Strick genommen und sich im ehelichen Schlafzimmer aufgehängt hatte.
Mierendorf und Engdahl kannten Wolf Andresen. Sie waren beide in Westerland geboren worden und hatten damit einen Vorsprung, denn Erik war Wenningstedter und Sören Hörnumer, dessen Eltern vor Jahren nach Wenningstedt gezogen waren, als Sörens Vater Oberkellner im Kliffkieker wurde.
»Seit Saskia so krank ist, geht Andresens Ehe den Bach runter«, behauptete Enno Mierendorf.
»Was ist mit Saskia?«, fragte Erik.
»Sie ist schwer herzkrank«, entgegnete Rudi Engdahl. »Austherapiert.«
Mamma Carlotta, die sich unter diesem Begriff nichts vorstellen konnte, biss sich auf die Lippen. Gespannt sah sie von einem zum anderen in der Hoffnung, dass irgendjemand etwas sagte, was ihr weiterhalf. Aber sie hatte Pech. Alle schienen das Wort zu kennen, ein trauriges, unheilvolles Wort. Bedrückt sahen die vier Beamten vor sich hin, keiner blickte in Carlottas fragende Augen.
Also musste die sich doch zu Wort melden. »Was heißt das – austherapiert?«
Erik erhob sich, und Mamma Carlotta hatte das unangenehme Gefühl, dass er von ihr das Gleiche erwartete. Aber obwohl sie sehr viel Respekt vor einem Polizeibeamten hatte – auch dann, wenn er ihr Schwiegersohn war –, blieb sie sitzen. Ihre Neugier übertraf nun mal in jeder Lebenslage ihren Respekt bei weitem.
Erik seufzte resigniert auf. »Das heißt, es gibt keine Hoffnung mehr für das Kind«, erklärte er. »Die Ärzte sind am Ende. Man kann nur noch auf den Tod des kleinen Mädchens warten.«
Mamma Carlotta griff sich ans Herz. »Dio mio! Das ist ja entsetzlich. Die arme Bambina! Die bedauernswerten Eltern!«
Als das Telefon klingelte, nahm Enno Mierendorf den Hörer ab. Er lauschte kurz, dann nickte er und winkte Sören heran. »Der Anwalt aus Frankfurt ist dran, den du um Rückruf gebeten hast.«
Das Gespräch dauerte nicht lange. Nach wenigen Sätzen legte Sören den Hörer auf. »Christa Kern hat ein Testament hinterlassen«, sagte er zu Erik. »Ihre Schwester Bernadette Frenzel ist Alleinerbin.«
Ein Sylt-Urlauber trat ein, der den Verlust seiner Geldbörse anzeigen wollte, ihm folgte ein aufgeregter Boutiquenbesitzer, der verlangte, dass auf der Stelle Jagd auf einen Ladendieb gemacht wurde, der mit einer Handtasche durchgegangen war.
Mamma Carlotta spürte, dass sie nichts Neues mehr erfahren würde. »Beschreibst du mir den Weg zu diesem Fischhändler, Enrico?«, bat sie. »Ich werde dort fürs Mittagessen einkaufen. Und dann nehme ich den nächsten Bus nach Wenningstedt.«
8
Mamma Carlotta überquerte den Kirchenweg und ging auf das Bahnhofsgebäude zu. Auf dem Vorplatz blieb sie eine Weile stehen und betrachtete die »Reisenden Riesen im Wind«. So hießen die giftgrünen Kunststoffskulpturen, die vor dem Bahnhofsgebäude aufgestellt worden waren. Erik hatte ihr erzählt, dass der Kieler Künstler Martin Wolke dafür verantwortlich war,
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