Die Tote am Watt
wurde wie zu Lucias Lebzeiten. Während Felix noch weitere Witze über den Familiennamen machte, fiel Eriks Blick auf seine Schwiegermutter, die aufrecht auf ihrem Stuhl saß, die Kinder reden ließ, ohne sie zu unterbrechen, und den Fisch noch nicht angerührt hatte. Sie sah aus, als fürchtete sie, ausgerechnet dann den Mund voll zu haben, wenn sie endlich zu Wort kommen konnte.
Sören erzählte von dem Verkehrsunfall und von Toves befremdlicher Reaktion und Erik war sicher, dass Mamma Carlotta nichts davon mitbekam. Allmählich fing er an, sich Sorgen zu machen. Deswegen war er es schließlich, der die erste Gelegenheit ergriff, um seine Schwiegermutter zu fragen: »Gibt’s was Neues?«
»Sì!« Mamma Carlotta wartete, bis alle Augen auf sie gerichtet und alle Gespräche verstummt waren. »Ich weiß, wer der Mörder ist!«
Ein gelungener Auftritt mit furioser Wirkung, eine genau gesetzte Pointe, das Publikum saß mit offenem Mund da. Kein Theaterregisseur hätte es besser machen können.
Mamma Carlotta war hoch erfreut, dass der Moment der Stille ausreichte, um ihre Mitteilung zu wiederholen: »Ich weiß, wer Christa Kern umgebracht hat.«
»Und wer, bitte?«, fragte Erik.
»Wolf Andresen.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Er braucht Geld. Dringend!«
Erik machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. »Wir wissen, dass es Wolf Andresen finanziell nicht gut geht. Aber dieses Schicksal teilt er mit vielen. Deswegen bringt man doch niemanden um.«
Mamma Carlotta fegte den Einwand zusammen mit den Gräten des Bismarckherings vom Tisch, die Erik fein säuberlich auf einen Teller gelegt hatte. Während Felix und Carolin sich angewidert abwandten, bückte Sören sich wortlos, hob die Gräten auf und legte sie zurück auf den Teller.
Mamma Carlotta redete ungerührt weiter: »Saskia Andresen ist gar nicht austherapiert.« Genussvoll ließ sie die Vokabel eine Weile wirken. »Sie kann vielleicht noch gerettet werden. Durch eine Operation in den USA . Aber die wird von der Krankenkasse nicht bezahlt. Und glaubt ihr, dass Wolf Andresen Geld für eine Operation in den USA hat? So was ist teuer! Und zum Sparen hat er keine Zeit mehr! Das Kind muss bald operiert werden.«
Erik wollte gerade fragen, woher sie das wusste, aber sein Assistent nickte bereits bestätigend. »Ich habe mal vor Jahren von so einem Fall gelesen. Ich glaube, da war von hunderttausend Mark die Rede.«
Erik pfiff durch die Zähne. »Aber woher sollte Wolf Andresen wissen, dass Christa Kern vierzigtausend Euro im Haus hatte?« Doch er wartete Sörens Antwort gar nicht ab. »Das ist viel zu einfach. In dem Moment, in dem Andresen Saskia in die USA bringt, wäre er entlarvt. So dumm ist er nicht.« Erik sah seine Schwiegermutter mahnend an. »Was du gerade gesagt hast, vergisst du am besten ganz schnell wieder. Dass Andresen mit dem Mord an Christa Kern etwas zu tun hat, ist sehr unwahrscheinlich.« Er blickte wieder Sören an. »Wir halten uns an die beiden Frauen. Bernadette Frenzel ist die Hauptverdächtige. Sie hat den größten Vorteil von Christa Kerns Tod und definitiv kein Alibi.«
Mamma Carlotta sah deprimiert auf ihren Teller, schob ihren letzten Tintenfischring von einer Seite zur anderen, drehte ihn um die Gabel und ließ ihn kreisen. Die Enttäuschung hatte sie stumm gemacht.
»Wie sieht es nun mit Christa Kerns Umfeld aus?«, fragte Erik seinen Assistenten. »Immer noch keine Neuigkeiten?«
»Die Frau hatte kein Umfeld. Keine Verwandten, keine Freunde.« Sören hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»Was ist mit dem Stiefsohn?«
»Unauffindbar bis jetzt. Ich habe bei Bernadette Frenzel angerufen, die hat aber keine Ahnung. Sie hat den Stiefsohn nie gesehen. Der hat anscheinend seine Ferien nicht in Kampen verbracht. Die Frenzel kennt ihn nicht, sie wurde ja nie in die Villa nach Dortmund eingeladen. Jahrelang gab es keinen Kontakt mehr zu ihrer Schwester. Erst als die Kerns das Ferienhaus in Kampen kauften, änderte sich das.«
»Hat Christa Kern denn nie von dem Jungen geredet?«
»Anscheinend nicht. Sie hatte keinen Kontakt zu ihm. Der Stiefsohn müsste jetzt knapp dreißig sein, meint die Frenzel. Er ist zwei Jahre nach dem Tod des Vaters ausgezogen, obwohl er noch nicht volljährig war, und hat sich nie wieder bei seiner Stiefmutter blicken lassen.«
Erik nickte. »Scheint typisch für die Kern zu sein. Keiner hält es lange bei ihr aus.«
»Mierendorf und Engdahl arbeiten dran. Der junge Mann kann sich ja
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