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Die Tote am Watt

Die Tote am Watt

Titel: Die Tote am Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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zweimal hat er wegen gefährlicher Körperverletzung gesessen. Erinnern Sie sich, Sören, wie er den Besitzer der kleinen Kneipe in List zugerichtet hat, weil der ihm kein Bier mehr zapfen wollte?«
    Sören nickte. »Und dann die versuchte Vergewaltigung!«
    »Die allerdings nicht bewiesen wurde«, gab Erik zurück. »Aber in jungen Jahren soll er eine Tankstelle überfallen haben. Zum Glück war die Waffe, die er dem Tankwart vor die Nase hielt, nur eine Spielzeugpistole.«
    »Er ist und bleibt ein Choleriker«, ergänzte Sören. »Wir müssen Ihre Schwiegermutter noch einmal vor ihm warnen. Besser, Sie besorgen ihr italienischen Rotwein, Chef. Dann kommt sie nicht auf die Idee, ihn in Käptens Kajüte zu trinken.«

9
    Felix machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. »Nur Fisch und Brot?«, maulte er. »Und ich dachte …«
    Carolin versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellbogen. »Die Nonna macht bei uns Urlaub. Sie ist nicht hier, um für uns zu kochen.«
    Felix verzog das Gesicht, schwieg aber. Und Carolin, die die schuldbewusste Miene ihrer Großmutter sah, bemühte sich um einen unverzüglichen Themenwechsel. So hatte sie zu Lebzeiten ihrer Mutter auch immer dafür gesorgt, dass deren Ausbrüche wie ein frischer Wind durch die Familie fuhren, ohne Sturmschaden anzurichten. Während sie mit Mamma Carlotta den Fisch anrichtete und das Brot aufschnitt, erzählte sie aus der Schule. »Im Deutschunterricht behandeln wir jetzt die Interpretation von deutschen Volksmärchen.« Sie lächelte Mamma Carlotta an, die prompt in Bewunderung erstarrte, wie immer, wenn sie intellektuellen Kräften gegenüberstand. »Ich habe mich fürs Rotkäppchen entschieden. Morgen nehme ich ›Il Cappuccetto rosso‹ mit in die Schule.«
    Felix zog ein spöttisches Gesicht. »Märchen? Das ist ja babyhaft.«
    »Du hast keine Ahnung«, gab Carolin zurück. »In den Märchen steckt viel mehr, als du denkst.«
    Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und Erik rief: »Ich bin’s!« Wenig später stand er in der Küche, blickte auf den Tisch und fragte: »Ihr seid noch bei der Vorspeise?«
    »Von wegen!« Felix hockte sich wieder auf seinen Stuhl und zog sein Käppi über das rechte Ohr. »Die Nonna hat nicht gekocht.«
    Mamma Carlotta blickte nicht auf, als sie antwortete: »Du weißt doch, Enrico, dass ich bei Fisch-Andresen eingekauft habe. Und dann musste ich noch eine Weile auf den Bus warten und dann …« Plötzlich war ihr schlechtes Gewissen wie weggeblasen. »Wo ist Sören?«, fragte sie und sah sich um.
    Erik sah sie verwundert an. »Er will mit dem Fahrrad zum Bäcker fahren und sich was zu essen holen.«
    Mamma Carlotta sprang auf. »Warum hast du ihn denn nicht hereingebeten? Es ist doch genug Fisch da.« Schon stand sie am Fenster, pochte an die Scheibe und machte aufgeregte Zeichen. »Ich habe sogar diese entsetzlichen Heringe gekauft, weil ich weiß, dass man die hier so gern isst.«
    Sören, der noch mit seinem Fahrradschloss beschäftigt war, das ihm mehr Schwierigkeiten machte als einem potenziellen Fahrraddieb, blickte auf. Er verstand die Zeichen, die Carlotta ihm gab, nicht. Aber er begriff, dass er jetzt nicht einfach losradeln durfte. Zufrieden sah Mamma Carlotta, dass er das Fahrrad an den Gartenzaun lehnte und auf die Eingangstür zukam. Bevor er sie erreicht hatte, öffnete sie ihm bereits. »Kommen Sie rein, Sören! Wir essen natürlich zusammen. Sicherlich mögen Sie auch Heringe, oder? Die mag ja hier jeder.« Sie schüttelte sich. »Die schmecken so, wie hier der Wind riecht.«
    Sören blickte entzückt dem Bismarckhering in die toten Augen, der zum Glück nicht erzählen konnte, dass er aus dem Frischfisch-Sortiment von Feinkost Meyer stammte. Während Sören zum Besteck griff, hatte Erik längst die erste Gräte freigelegt, Felix erzählte von seiner Sportstunde und dem entscheidenden Treffer, den er während des Handballspiels erzielt hatte, und Carolin berichtete erneut vom Deutschunterricht. »Rotkäppchen wurde von der Mutter nicht auf Gefahren vorbereitet. Dann hätte Rotkäppchen gleich erkannt, dass der Wolf böse ist.«
    »Unsere Mutter hat uns auch nicht gewarnt«, grinste Felix und stieß Carolin an. »Sie hat uns sogar einen Wolf als Vater präsentiert.«
    Er lachte ausgelassen, Carolin verdrehte die Augen, Sören lächelte höflich und Erik ein wenig zerstreut, der sich nicht anmerken lassen wollte, wie sehr er es genoss, dass jeder Stuhl an diesem Tisch besetzt war und so laut und lebhaft geredet

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