Die Tote im Keller - Roman
zur Haustür ihrer Mutter. Sie nutzte die Mittagspause dazu, einige Dinge, um die sie ihre Mutter gebeten hatte, zu holen.
Als Irene die Wohnungstür aufschloss, schlugen ihr die Erinnerungen entgegen. In dieser Wohnung hatte sie die ersten 19 Jahre ihres Lebens verbracht. Gerd hatte fast 43 Jahre dort gelebt.
Es war eine kleine Dreizimmerwohnung, genauer gesagt, eine Zweizimmerwohnung mit Kammer. Das kleine Zimmer lag hinter der Küche, es hatte früher Irene gehört. Mit etwas gutem Willen hatten dort ein Bett, eine Kommode und ein kleiner Schreibtisch Platz gefunden. An der Wand über dem Schreibtisch hing ein Regal. Die Wand hatte ursprünglich eine Tapete mit kleinen Rosenknospen geziert. Mit vierzehn hatte Irene die Tapete heidekrautlila übermalt. Als sie ausgezogen war, hatte
ihr Vater als Erstes die Wände hellbeige gestrichen. Der lila Bettüberwurf und der passende Teppich waren aber geblieben. Die Möbel auch. Seit dem Tag, als sie ausgezogen war, hatte sich nichts verändert. Ihre Eltern hatten die Kammer als Gästezimmer verwendet. Wenn die Zwillinge bei ihrer Großmutter übernachtet hatten, nachdem diese Witwe geworden war, hatte diese in dem kleinen Zimmer geschlafen und den Mädchen das Doppelbett im Schlafzimmer überlassen.
Irene hob die Post und die Zeitungen vom Fußabstreifer in der Diele auf und ging in die Küche, um die Gießkanne zu holen. Im Gegensatz zu ihr besaß Gerd einen grünen Daumen und interessierte sich für Blumen. Auf den Fensterbänken standen alle möglichen Topfpflanzen. Sogar in der dunklen Jahreszeit gelang es ihr, Blumen zum Blühen zu bringen. Zur Zeit prunkten zwei Orchideen im Wohnzimmerfenster.
Sie verweilte auf der Schwelle zur länglich geschnittenen Küche und betrachtete das vertraute Interieur. Die Schranktüren hatte ihr Vater weiß lackiert, damals, als er auch die Wände in ihrem Zimmer in einem neutralen Beige gestrichen hatte. Damals hatte er alle Zimmer frisch tapeziert. Anschließend war in der Wohnung, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, nichts mehr verändert worden. Nur der Herd und der Kühlschrank waren Mitte der achtziger Jahre ausgetauscht worden. Damals waren die Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt worden, und die alten Elektrogeräte im Haus waren ersetzt worden. Damals waren auch das Treppenhaus renoviert und der Hof instandgesetzt worden, und man hatte einen Hausmeisterservice engagiert. Danach war der Schnee nicht mehr geräumt worden, nur wenn sich die Gemeindearbeiter mal nach Guldheden verirrten. Irene seufzte. Früher war alles besser gewesen. Sie füllte die Gießkanne mit Wasser und gab eine Verschlusskappe Pflanzendünger dazu. Energisch begann sie, die durstigen Pflanzen zu gießen. Keine von ihnen sollte während Gerds Abwesenheit dran glauben müssen, dafür wollte sie schon sorgen.
Als sie fertig war, fielen ihr Stures Pflanzen ein. Wer kümmerte
sich eigentlich um seine Wohnung? Er hatte keine Kinder, und Irene wusste nicht, ob er andere Angehörige besaß. Wann sollte sie eigentlich ihrer Mutter von Stures Tod erzählen? Wieder einmal stellte sie fest, dass es ohnehin keinen geeigneten Zeitpunkt gab. Sie musste es einfach so bald wie möglich erledigen.
»Wo hast du gesteckt? Ich habe dich gesucht«, sagte Jonny vorwurfsvoll.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte Irene.
Sie hatte nicht die Absicht, ihm zu erzählen, wo sie gewesen war. Das ging ihn nichts an.
Jonny sah sie finster an. Er trat ratlos von einem Bein aufs andere und sagte dann höchst widerwillig:
»Du bist doch mit dieser kleinen Schwuchtel Niklas so gut klargekommen. Tommy und ich haben es noch mal mit Billy versucht, aber das ist aussichtslos. Er schweigt eisern.«
Das lag vermutlich daran, dass die beiden Polizisten in Billys Augen jene Welt repräsentierten, der man nur mit Schweigen begegnen konnte: Männer fortgeschrittenen Alters, Behörden und Schwulenhasser. Letztere Beurteilung galt hauptsächlich für Jonny.
»Ich kann natürlich dabei sein, wenn du mit Niklas redest. Ich hänge nur schnell meine Jacke auf«, sagte Irene und verschwand in ihrem Büro.
»Verhörzimmer zwei in einer halben Stunde«, hörte sie noch Jonnys Stimme hinter sich.
Tommy war nicht da. Es war schon eine Weile her, dass sie zuletzt mit ihm gesprochen hatte. Sie hatte nichts Besonderes auf dem Herzen, aber sie hätte sich gerne mal wieder mit ihrem Freund und Kollegen unterhalten. Als sie gerade ihre Jacke aufhängte, knisterte die
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