Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Später, ermahnte sie sich stumm. Jetzt galt es erst einmal, ihrer Mutter gegenüber zu treten.
Sie riss die Tür auf – und prallte zurück. Wie aus dem Boden gewachsen stand die Großmutter vor ihr, auf ihren Stock gestützt und leise vor sich hinsummend.
»Großmutter!«, keuchte Sophie erschrocken. »Ich habe dich nicht gehört.«
Die Großmutter unterbrach ihr Summen, ihre Mundwinkel hoben sich leicht. »Du hast geschlafen, Kind.«
»Ja, ich … « Sophie biss sich auf die Lippe, fasste dann einem plötzlichen Impuls folgend die faltige Hand. »Großmutter, ich habe den Wolf gesehen«, flüsterte sie. »Es ist kein Wolf, sondern ein Hund! Ein riesiger, dunkler Hund!«
Das Lächeln wurde sanft. »Das weiß ich doch, Kind.« Sie tätschelte Sophies Hand. »Es ist gut, dass du zurück bist.«
Irritiert blinzelte Sophie zu ihr hinab, bis ihr aufging, dass ihre Großmutter einen jener Momente hatte, den Lotte als Wahn bezeichnete. Ihr hingegen schien es, als öffne sich der Großmutter eine andere Sicht auf die Dinge, die niemand sonst verstand, als sehe sie hinter den Schleier, der die Grenzen der Erkenntnis bildete.
»Du hast sie gesehen?« Die brüchige Stimme der Großmutter riss Sophie aus den Gedanken. »Du hast die Hexe gesehen?«
»Sie ist keine Hexe.« Sophie lehnte die Stirn gegen die Hand der Großmutter. »Sie ist eine alte Frau, die etwas seltsam ist. Sie ist unschuldig, aber das wollte mir niemand glauben.«
»Wir sind alle schuldig, manche mehr, manche weniger.« Die Großmutter wiegte den Kopf. »Beweise es, und man wird dir glauben. Beweise wiegen schwerer als Behauptungen.«
Sophie nickte langsam und hob den Blick. Sie lächelte zaghaft. »Danke.«
»Geh zu deiner Mutter. Sie erwartet dich.«
Sophies Mundwinkel zuckten unbehaglich. Sie umarmte die Großmutter kurz und innig. »Danke«, flüsterte sie noch einmal, dann schob sie sich an der alten Frau vorbei und eilte die Treppe hinab.
Sie fand ihre Mutter wie erwartet in der Stube. Das Frühstück stand noch auf dem Tisch, schien aber kaum angerührt. Der Kaffee in den Tassen war kalt, Brotscheiben drängten sich in einem viel zu engen Korb. Lotte hatte ihren Stuhl ein wenig gedreht und hielt einen Brief in das spärliche Licht, das durch das Fenster hineinfiel. Verdutzt bemerkte Sophie, dass ihre Mutter in einer Hand ein Lorgnon hielt, während ihre Lippen lautlos Worte formten.
Sophie blieb in der Tür stehen, die Hände eng an die Seiten gepresst, und wartete.
Wenn Lotte sie bemerkt hatte, ließ sie sich Zeit, bis sie schließlich den Brief und die Lesehilfe sinken ließ und aufsah. »Du hast lange geschlafen.«
»Ich bin spät nach Hause gekommen.« Sophie räusperte sich, als sie merkte, wie kratzig ihre Stimme klang. »Es tut mir leid.«
Lotte wölbte eine Augenbraue. »Was tut dir leid?«
»Dass ich Wilhelm in Gefahr gebracht habe«, murmelte Sophie.
Lotte schwieg, nickte dann und legte den Brief beiseite. »Ist das alles?«
»Fast.« Sophie starrte auf ihre Füße. »Julius hatte mir verboten, die Hexe aufzusuchen.«
Wieder einen Moment Schweigen, ehe Lotte fragte: »Warum hast du es trotzdem getan?«
»Weil ich … ich … « Sophie biss sich auf die Lippen, druckste einen Moment herum. »Weil ich es für falsch hielt zu warten.«
Sie ahnte das Nicken mehr, als dass sie es sah.
»Setz dich.«
Überrascht hob sie den Kopf. »Ich … «
»Du sollst dich setzen«, wiederholte Lotte ungerührt und nahm den Brief wieder auf. »Deine Schwester hat übrigens aus Kassel geschrieben.«
»Und Sie wünschen, dass ich Lisbeth nachreise?«, fragte Sophie bang. Es gab viele Möglichkeiten der Bestrafung, aber die Aussicht, die nächsten Jahre der kränklichen Tante den Pisspott zu leeren, erschien ihr als die furchtbarste.
Lotte schüttelte den Kopf. »Du bleibst hier. Iss etwas, damit du zu Kräften kommst. Und dann geh ins Rathaus und berichte Onkel Laumann noch einmal, was du von diesem Wolfstier gesehen hast.«
Sophie starrte sie verblüfft an und wollte im ersten Moment nicht glauben, was sie gehört hatte. »Ich soll … «
»… etwas essen, ja.« Lotte blickte über den Rand ihrer Brille zu ihr hinüber. »Du solltest auch den jungen Grimm aufsuchen und dich entschuldigen. Das ist das Mindeste, was du tun kannst.«
»Das mache ich«, nickte Sophie und versuchte vergeblich ein Lächeln zu unterdrücken, das sich auf ihre Wangen stahl. Sie verstand zwar nicht, was hier geschehen war, aber sie wollte den Langmut ihrer
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