Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
dort draußen seines Lebens nicht mehr sicher.«
Sophie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Dürfte ich Sie um etwas bitten?«
»Du darfst vieles, schönes Kind.«
»Könnten Sie uns zwei Fackeln mit auf den Weg geben? Wir haben sonst kein Feuer, und der Hund … «
»Ihr könnt jetzt nicht gehen.«
Sophies Herz tat einen erschrockenen Satz. »Wie … ?«
»Du bringst ihn um.« Die Alte deutete auf Wilhelm, dessen Lippen sich kaum merklich bewegten, als rede er im Traum. »Lass ihn heute Nacht hier. Morgen früh wird das Fieber gesunken sein, und dann könnt ihr heim. Mit Fackeln, wenn es euch den Weg sicherer macht.«
»Aber ich … «, begann Sophie, verstummte dann und senkte den Kopf. Die Hexe hatte recht, es wäre Wahnsinn, Wilhelm jetzt den langen Heimweg zuzumuten, auch wenn es bergab wahrscheinlich leichter ging als den langen Aufstieg hierher. Ihre Mutter würde außer sich sein vor Sorge. Hoffentlich hörte sie zu, wenn Sophie versuchte, alles zu erklären. Aber wenn Wilhelm etwas zustieß, wurde sie sich das nie verzeihen. »Einverstanden«, murmelte sie. »Bis morgen früh.«
Die Hexe lächelte zufrieden.
*
Sophie hatte das Gefühl, als würde sie schweben. Ihr Körper war ganz leicht, wie eine Feder, die sich sacht im Wind drehte. Über ihr spannte sich ein grauer Himmel, milchig dort, wo die Sonne hinter den Wolken stand. Krähenschwärme flogen auf, ihr Krächzen erfüllte die Luft, sodass Sophie am liebsten beide Hände auf die Ohren gepresst hätte. Aber sie flog, sie brauchte die Arme, um über die Baumwipfel hinwegzugleiten, die sie am Bauch kitzelten und kratzten, wie neckende Fingerspitzen. Sie wusste, wo sie war, dort drüben die Ruine und weiter entfernt über dem Flusstal das Landgrafenschloss. Weit entfernt von zu Hause, aber es bekümmerte sie nicht. Sie war frei, und vor allem war sie sicher. Hier oben konnte sie niemand erreichen, vor allem nicht der Wolf, der dort unten zwischen den Bäumen lauerte. In der Ferne grummelte Donner. Wie konnte es an einem solchen Tag gewittern? Irritiert sah sie sich um, doch um sie herum nur das trübe Grau eines wolkigen Novembertags. Wieder donnerte es, lauter dieses Mal. Es kam näher, viel zu schnell! Der Gedanke brachte sie ins Trudeln, ihr sicheres Gleiten wich einem aufgeschreckten Taumeln, hilflos wedelte sie mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Wieder Donner, ohrenbetäubend laut. Und dann grellte plötzlich ein Blitz. Mit einem Aufschrei warf sie die Hand vor die Augen, spürte, wie sie fiel, schwer wie ein Stein. Doch dort unten wartete er bereits …
»Der Wolf!« Sophie fuhr hoch. Ihr Herz galoppierte, keuchend rang sie nach Luft, während sie ungläubig in das Licht mehrerer Fackeln starrte. Fackeln, Gestalten, die sich in der Hütte drängten, Rufe. Träumte sie? War sie wach? Wo beim gütigen Gott war sie?
»Da ist sie!«, hörte sie Stimmen rufen, und im nächsten Moment lösten sich zwei Gestalten, ein Riese, der den Kopf einziehen musste, um nicht an die Kräuterbündel an der Decke zu stoßen, und eine hagere Gestalt mit knochigen Schultern und einem Kopf, der auf einem viel zu langen Hals zu sitzen schien. Fackelschein spiegelte sich auf den Gläsern seiner Brille und verbarg die Augen, aber der Mund war zu einem schmalen Strich zusammengezogen.
»Sophie! Kind!« Der Riese fiel neben dem Bett auf die Knie und griff nach Sophies Hand und jetzt endlich erkannte sie Onkel Hugo, dem Tränen der Erleichterung über die Wangen rannen. »Sophie! Mein Gott, mein Gott, Sophie!«, stammelte er unbeholfen.
»Mir geht es gut«, versuchte sie beruhigend zu lächeln und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Wilhelm ist erschöpft, aber uns ist nichts zugestoßen. Die Hexe … «
»Um die Hexe kümmert sich der werte Generalleutnant von Rotsmann«, ließ sich der andere Mann vernehmen, den Sophie nun zu ihrer Überraschung als Julius erkannte. »Hat sie euch etwas gegeben? Essen, etwas zu trinken? Irgendetwas?«
»Nur Wilhelm«, antwortete Sophie verwirrt. Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte. »Es war zu viel für Wilhelm, und sie hat ihm etwas gegen das Fieber gegeben. Warum?«
»Erkläre ich dir unterwegs.« Julius schaute sich um und klaubte ihren Mantel von der Stuhllehne. Oben auf einem Balken saß der schwarze Kater und fauchte. »Zieh dich an. Wir müssen zurück.«
Sophie lagen noch viele Fragen auf der Zunge, aber sie fügte sich und schlüpfte in ihre Stiefel. Onkel Hugo half ihr in
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