Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
zweifeln. Zweifel hielten sie schon viel zu lange in diesem engen Ort fest. Und selbst wenn Hannes wütend war, dass sie ohne seine Zustimmung gehandelt hatte, er würde ihr am Ende dankbar sein, dass sie die Dinge in die Hand genommen hatte. Bis die Polizey so weit gegraben hatte, dass es für sie eng wurde, waren sie längst fort und hatten genug Schlagbäume zwischen sich und Marburg gebracht, dass sie niemand mehr erreichen konnte. Und dann würden sie ein neues Leben führen können. Ein Leben mit ausreichend Geld, Ansehen, schönen Kleidern, wie Hannes es ihr so oft ausgemalt hatte. Zuvor jedoch musste sie den Stein ins Rollen bringen und rechtzeitig genug zurücksein, ehe jemand ihr Fortsein bemerkte. Danach blieb ihr nur noch abzuwarten und im richtigen Moment zuzuschlagen.
Vor dem Dierlinger’schen Haus blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken, um einen Blick hinaufzuwerfen zu den Fenstern. Sie hätte auch zu Wachtmeister Schmitt oder gleich zur Polizey gehen können, aber da stellte man zu viele Fragen. Und wenn Greta eines fürchtete, dann waren das zu viele Fragen. Sie durfte nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das würde die junge Dierlinger schon für sie tun.
Es dauerte nur ein paar Herzschläge, bis jemand auf ihr Klopfen hin öffnete. Der Mann, der in der Tür stand, füllte diese nahezu vollständig aus. Das Hemd spannte über den breiten Schultern, und auf der Hose prangten getrocknete Soßenflecken. Die Art, wie er sie ansah, mit grimmiger, tumber Miene, verriet Greta, wen sie vor sich hatte. Sie schickte einen erleichterten Stoßseufzer zum Himmel. Lotte Dierlinger hätte es ihr sicher schwerer gemacht, mit Sophie alleine zu reden.
»Entschuldigen Sie, Sie sind Hugo Laumann, nicht wahr?«, begann sie und lächelte mit geschlossenem Mund, um ihre schlechten Zähne zu verbergen. Gerade Männer fühlten sich davon oft abgestoßen. »Sie können mir sicher helfen.«
»Das weiß ich nicht.« Hugo kratzte sich am Kopf. »Was willst du denn?«
»Ich muss dringend mit Sophie sprechen. Alleine, wenn es möglich ist.«
Der Hüne schüttelte langsam den Kopf. »Sophie ist nicht zu Hause. Du kannst nicht mit ihr sprechen.«
Nicht zu Hause. Greta fluchte stumm. Daran hatte sie nicht gedacht, und die Zeit war zu eng, um zu warten. Im Trubel der Bestattung würde sie vermutlich so bald keine Zeit mehr finden, sich ungesehen davonzuschleichen. »Können Sie ihr bitte etwas ausrichten?«
»Was soll ich ihr denn sagen?« Wieder kratzte sich Hugo am Kopf, dieses Mal an der anderen Seite. Vielleicht hilft ihm das beim Denken, dachte Greta hämisch. Ihr sollte es recht sein, solange er alles behielt, was sie ihm sagte.
»Richten Sie ihr bitte aus, dass sie mich besuchen soll«, sagte sie und bemühte sich, eindringlich zu sprechen. »Sie kennt mich. Sie soll nach mir fragen. Es ist wichtig, ja?«, hakte sie noch einmal nach, als sie das Interesse in Hugos Augen schwinden sah. »Kann ich mich darauf verlassen?«
Hugo brummte etwas. »Wer bist du überhaupt?«
»Ich? Ach«, Greta lachte leise. »Greta. Ich arbeite als Dienstmädchen bei den Wittgens.«
Bei der Nennung des Namens nickte Hugo schwermütig. Er seufzte. »Das arme Mädchen.«
»Und die arme Frau«, pflichtete Greta ihm gespielt mitfühlend bei. »Ich kann mich darauf verlassen, dass Sie Sophie alles ausrichten?«
Der Hüne nickte wieder auf seine unerträglich langsame Art. »Natürlich.«
So natürlich fand Greta das gar nicht, als sie bereits zurück zum Wittgen’schen Haus eilte. Aber ihr blieb nichts anderes, als darauf zu vertrauen, dass der Narr tat, worum sie ihn gebeten hatte. Und darauf, dass Sophie tatsächlich kam.
*
Die Unruhe war nicht greifbar. Es gab keine Menschenansammlungen, keine wütenden Protestrufe, niemanden, der hektisch umherlief, im Gegenteil. Die ganze Stadt schien wie gelähmt, die Gespräche gedämpft, als habe man Furcht, jemand könnte sie belauschen. Misstrauisch äugten die Menschen aus ihren Häusern, huschten umher, ohne einander ins Gesicht zu sehen. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Julius, während er eilig die Stufen hinauf zu den Dierlingers nahm. Es war inzwischen Nachmittag geworden, eine Stunde, höchstens zwei, und der Abend würde hereinbrechen und mit ihr die Dunkelheit, die Monster zu gebären drohte.
Es gab wenige Momente, an denen er die Einschätzung seines Vaters teilte, aber jetzt war es tatsächlich so weit. Während sie Katharina Wittgens Leiche untersucht hatten,
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