Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
dass Verkriechen nicht half. Es hatte nach dem Tod ihres Vaters nicht geholfen, und es würde auch jetzt nichts nützen. Sie musste darüber reden, wollte sie diesen Anblick jemals aus ihrem Kopf verbannen. Tastend griff sie nach Wilhelms Hand, drückte sie kurz, ehe sie die Tür aufschob.
Wohlige Wärme und der würzige Duft nach Buchenholzfeuer schlug ihr entgegen. Onkel Hugo kniete vor dem Kachelofen und legte gerade Holzscheite nach. Ihre Mutter und ihre Besucher hatten die Sessel an den Ofen gerückt, auf ihrer Bank am Fenster saß in eine Decke gehüllt die Großmutter, die leise summend an ihrem Stickrahmen arbeitete. Obwohl sie fast blind war, flog die Nadel mit traumwandlerischer Sicherheit auf und ab und zauberte bunte Bilder auf den Stoff.
Hugo war es, der sie als Erster entdeckte. »Sophie!« Ein breites Lächeln spannte sich über sein grobschlächtiges Gesicht, während er rasch die Ofenklappe schloss und sich erhob. Er war ein großer Mann, der im Haus fast überall den Kopf einziehen musste, mit den Schultern eines Ochsen – und leider auch dessen Gemüt. Solange sich Sophie erinnern konnte, lebte Hugo bei ihnen und arbeitete als Hausknecht. Die Arbeit schien ihm Spaß zu machen, und seit dem Tod ihres Vaters verstand er sich als Beschützer und ›Mann‹ im Haus. Die Mutter ließ ihn gewähren, schließlich war sie es, die ihren schwachsinnigen Bruder zu sich geholt hatte. Dafür vergötterte Hugo sie, und genauso vergötterte er Lisbeth und Sophie, die er nun kopfschüttelnd musterte. »Wir haben uns Sorgen gemacht.«
»Sophie?« Ihre Mutter drehte sich in ihrem Sessel um, verengte die Augen ein wenig. »Wo bist du gewesen?«
Ihre Besucher wandten sich ihnen ebenfalls zu. Sophie erkannte Savigny, ihren Nachbarn in der Ritterstraße und guten Freund ihres verstorbenen Vaters. Wilhelm und Jakob studierten bei ihm, auch wenn Sophie sich bisweilen fragte, was ein so staubtrockener Mann Interessantes zu erzählen hatte. Dennoch mochte sie Savigny wegen seiner ruhigen, besonnenen Art – und weil Wilhelm ihn mochte. Savigny war heute in Begleitung von Clemens Brentano, ein Dichter und guter Freund des jungen Juristen. Lotte hatte einmal darüber gewitzelt, wie unterschiedlich die beiden doch seien – Savigny ein kühler, unergründlicher See, während Brentano das Spiel des Windes im Blattwerk, der tanzende Schmetterling oder der Vogel war, der von Zweig zu Zweig huschte und seine Lieder sang. Er hatte kein Studium zu Ende gebracht, sondern zog umher, als bereite ihm die Eintönigkeit Qual. Zurzeit weilte er wieder einmal in Marburg, um noch diesen Monat die Schriftstellerin Sophie Mereau zu heiraten.
Sophie nickte den beiden flüchtig zu und machte ein paar Schritte in den Raum hinein, um den Grimms Gelegenheit zu bieten, ihr zu folgen. »Ich war an der Lahn«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Ihre Zunge glitt über die zittrigen Lippen. »Ich war mit Anna und ihrem Friedrich unterwegs … und mit Jakob und Wilhelm Grimm. Wir haben Helene Wittgen gefunden. Sie ist tot.«
»Tot?« Die steile Falte auf der Stirn der Mutter, die bereits Unheil verkündete, wich ungläubigem Befremden. Irritiert wanderte ihr Blick zu den Grimmbrüdern, die bislang stumm dastanden. »Wieso … tot?«
» Wieso können wir nicht sagen«, antwortete Jakob an Sophies Stelle. Er sprach ruhig, aber wie immer schien es, als untermale er jedes seiner Worte mit einem Hauch beißenden Spotts, zu fein, um ihn zu fassen, aber zu spitz, um ihn nicht zu bemerken. »Es sei denn, Sie meinen die Tatsache, dass etwas ihr Kehle und Gesicht zerrissen hat.«
»Vermutlich streunende Hunde oder ein Fuchs«, ergänzte Wilhelm.
»Oder der Wolf!«
Die Großmutter hatte geflüstert, aber sofort wandten sich alle Gesichter zu ihr um.
»Was meinst du, Mutter?«, fragte Lotte und runzelte die Stirn.
»Es war der Wolf.« Ein wissendes Schaudern spiegelte sich auf dem Gesicht der Greisin. »Er kommt, um die jungen Mädchen zu holen.«
»Dann hätte das Tier einen höchst exquisiten Geschmack«, bemerkte Jakob. »Das Mädchen ist wahrscheinlich ins Wasser gestürzt, ertrunken und lag anschließend zu lange am Ufer.«
Lotte hob die Hand. »Schließen Sie bitte die Tür hinter sich, meine Herren, und setzen Sie sich. Du auch, Sophie«. Sie deutete auf die Bank neben dem Ofen. »Und erklärt uns noch einmal, was genau geschehen ist.«
Sophie und die Grimms beeilten sich, der Aufforderung nachzukommen. Sophie erzählte, wie sie sich getroffen
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